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Beschämung als nachhaltiges Gift #

Noch immer werden Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrer in Schulen bloßgestellt. Warum das so ist – und was man dagegen tun kann. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 19. Oktober 2017).

Von

Doris Helmberger


Eine Turnstunde in einem Wiener Gymnasium. Patrick sitzt mit seinen Klassenkollegen an der Sprossenwand, als ihn der Lehrer vor aller Augen auffordert, eine Metallstange emporzuklettern. Der Pädagoge ahnt, nein, er weiß, dass der untersetzte Bursch in kurzen Hosen das nicht schaffen wird. Und tatsächlich vermag Patrick nur bis zu einer Höhe von einem Meter zu kraxeln. Dort bleibt er hängen und klammert sich mit seinen nackten Beinen an die Stange. Doch statt verzweifelt loszuschluchzen, ruft der selbstbewusste Bursch einfach nur „Das geht aber nicht!“ Prompt beginnen die anderen zu lachen – aber nicht über Patricks Kletterkompetenz, sondern über seine Schlagfertigkeit.

„Ich musste vor allen scheitern“, sagt Patrick Wolf heute über dieses Erlebnis aus seiner Schulzeit, „aber ich habe die Beschämung letztendlich energetisch umgedreht.“ Schon damals habe er gewusst, dass es „nicht okay“ sei, was der Turnlehrer da an ihm exerziert habe. Doch heute, als Pfichtschulinspektor im 20. Wiener Gemeindebezirk, könne er die Szene auch als typisches Beispiel dafür sehen, wie Beschämung im Kontext von Schule funktioniert.

Hier und heute anfangen #

Den Fokus auf etwas legen, was gerade nicht gelingt – und diesen Teil dann im Beisein von anderen als generelle Inkompetenz darstellen, die dauerhaft zu einer Person gehört: So könnte man das Phänomen „Beschämung“ beschreiben. Ritualisierte Beschämungen wie „Winkerl stehen“ sind zwar weitgehend passé, doch verbale Herabwürdigungen gibt es noch immer zuhauf. Um für dieses Problem zu sensibilisieren, hat das Bildungsnetzwerk „Jedes Kind“ nun unter dem Titel „Wertschätzen statt Beschämen“ eine Handreichung herausgebracht (s.o.). 2014 wurde der Verein als politische Lobbyingplattform gegründet – mit einstigen Protagonisten wie Harald Mahrer (ÖVP) oder Daniel Landau (Grüne). Doch von der Idee, direkt Einfluss auf die Bildungspolitik nehmen zu wollen, hat man sich mittlerweile verabschiedet. Auch den Kampf gegen die Aufteilung zehnjähriger Kinder in Mittelschüler und Gymnasiasten, die man als „strukturelle Beschämung“ kritisiert, hat man vorerst auf Eis gelegt. Vielmehr versucht man, die alltäglichen Spielräume zu nutzen und praktische Hilfestellungen zu bieten. „Es wäre absurd, Beschämung vollkommen verhindern zu wollen“, ist sich Edith Holzer vom Verein „Jedes Kind“ bewusst. „Aber man kann an der eigenen Haltung arbeiten und sich der eigenen Beschämungsgeschichte stellen, um nicht unbewusst selbst wieder zu beschämen. Dazu braucht es keine grandiose Bildungsreform, damit kann jeder hier und sofort anfangen.“

Nicht nur Patrick Wolf hat seine ganz persönliche Beschämungsgeschichte aufgearbeitet, sondern auch Davorin Barudzija. Der studierte Medieninformatiker und Coach, der im Rahmen der Initiative „Teach for Austria“ in einer Wiener Brennpunktschule im Einsatz war, ist 1992 mit seiner Familie vor dem Balkankrieg nach Österreich geflohen. In der Volksschule, die er danach besuchte, hat er viele positive, aber auch manch negative Dinge erlebt. Eine Szene spürt er bis heute in der Magengrube: „Die Lehrerin hat uns Deutschaufsätze zurückgegeben. Und dann hat sie mir vor der ganzen Klasse erklärt, was ich alles falsch gemacht habe.“

War die Lehrerin so sadistisch, dass sie ihn demütigen wollte? Vermutlich nicht. Eher war es Gedankenlosigkeit. Nach Ansicht von Günter Lueger, ehemals Professor für Personalführung an der Wiener Wirtschaftsuni und heute Leiter des Instituts für Potenzialfokussierte Pädagogik, braucht es drei Zutaten für einen Beschämungsprozess: eine Person, die das Zeug zum „Defizit-Detektiv“ hat, die also bevorzugt darauf achtet, was alles nicht funktioniert; eine Bühne, auf der ein „Vorführeffekt“ stattfinden kann; und eine Person, die auf diese Vorführung reagiert. Was manche als ultimative Bloßstellung empfinden, nehmen schließlich andere gar nicht wahr – oder erleben es gar als Spaß. Kinder mit hohem Selbstwertgefühl und geistiger Widerstandskraft (Resilienz) würden jedenfalls weniger leicht beschämt, weiß Günter Lueger. „Und je kleiner die Kinder sind, desto verletzlicher sind sie.“ Dass damit der Lernprozess torpediert werde, ist für Lueger selbstredend. Hält man hingegen Ausschau nach dem, was einem Kind bereits gelungen ist, kommt es zu einer völlig neuen Perspektive. „Es geht aber nicht darum, zu beschönigen oder Fehler gar nicht mehr zu thematisieren“, stellt Lueger klar, „sondern darum, herauszufinden, was den Unterschied ausmacht, wenn etwas besser funktioniert als zuvor.“ Statt Kinder ständig zu vergleichen, sollte man also den Leistungsfortschritt des einzelnen Kindes betrachten – und ihm selbst die Verantwortung geben, dies zu bewerten. Verbale Sensibilität sei jedenfalls zentral: „Das Wort ist mächtiger als das Schwert“, betont Lueger. Begriffe wie „Versager“ bleiben ewig im Gedächtnis.

Elke Poterpin weiß, dass hier im Rahmen der Lehrerausbildung schon viel in Bewegung gekommen ist. Nicht zuletzt sie selbst versucht als Psychologin, die Perspektive angehender Pädagogen an der PH Wien von der Fehler- auf die Schatzsuche zu verändern. Und doch gebe es noch immer Menschen mit einzigartigem Fokus auf Schwächen, erzählt Poterpin: „Eine Lehramtsstudentin hat bei einer Schülerin, die bei einem Test 65 von 70 Punkten erreicht hat, Folgendes hingeschrieben: ‚Schade, streng dich das nächste Mal mehr an!‘“

Beschämt werden können aber auch die Lehrenden selbst, ergänzt Günter Lueger. „Als in den 1990er-Jahren an den Unis die Evaluation der Lehre eingeführt wurde, ist einmal im Internet gestanden: ‚Der XY ist der unfähigste Vortragende der WU‘ – und ein Student hat das dann im Audimax an die Wand projiziert.“ Der betroffene Vortragende habe daraufhin psychosozial versorgt werden müssen, erinnert sich Lueger.

Selbstfürsorge und Achtsamkeit #

Beschämung kann also alle treffen. Doch was kann man dagegen tun? Zentral ist laut „Jedes Kind“, dass Pädagogen auf sich selbst achten – durch Selbstfürsorge oder das Konzept „Achtsam mit Ali“ (Atmen – Lächeln – Innehalten) für herausfordernde Situationen. Hilfreich wäre auch, regelmäßig in der Klasse ein „Council“ einzurichten, bei dem sich Schülerinnen und Schüler strukturiert und empathisch austauschen können. Lehrende könnten durch wertschätzende Rückmeldungen auch beitragen, die Resilienz der Schüler zu fördern. Der konstruktive Umgang mit Fehlern gehöre jedenfalls dazu, weiß Elke Poterpin. Sie hat einen eigenen Satz parat, den sie künftigen Lehrkräften ins Stammbuch schreibt: „Aus Fehlern wird man klug, darum ist einer nicht genug.“

Nicht hilfreich sind hingegen Sager, wie sie ein Lehrer formulierte, den Patrick Wolf bei einer Hospitation erlebte. „Auf die Frage, warum er diesmal nur sechs Kinder hatte, meinte er: ‚Ich habe heute nur die Schwachen.‘ Und als ich zu ihm sagte: ‚Sie haben also die, die noch viel besser werden können‘, hat er es noch immer nicht verstanden.“ Wolf selbst hat seine eigene Beschämungsgeschichte jedenfalls heil überstanden. „Elf Jahre AHS können schon was“, meint er lächelnd. „Aber ich habe einen irrsinnig starken Background gehabt und bin mit viel Liebe bis zur Matura getreten worden.“ Vom Multi-Repetenten in den Stadtschulrat: Auch so kann es gehen mit ein wenig Resilienz.

Hilfe für den Schulalltag. Unter dem Titel „Wertschätzen statt Beschämen“ hat der Verein „Jedes Kind“ eine Broschüre zusammengestellt, die Lehrenden, Eltern und Bildungsinteressierten eine praktische Hilfe sein soll: http://www.jedeskind.org

DIE FURCHE, Donnerstag, 19. Oktober 2017