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Die beseelte Generation #

Die Generation von 1968 hat in vielen Bereichen Geschichte geschrieben. Doch in der bunten Revolte verbirgt sich auch eine verquere spirituelle Bewegung. Deren Vermächtnis sich vielleicht erst in Zukunft voll entfalten wird.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, Donnerstag, 21. Dezember 2017

Von

Martin Tauss


Hippie
Hippie
Illustration: Dario Santangelo

Vielleicht sind die ergrauten „1968er“ die jüngsten Alten, die es je gab. Viele der Menschen, die dieser Generation zugerechnet werden, sind heute längst Großeltern. Doch manche werden ihren Enkeln noch immer begeistert erzählen, dass sie in ihrer Jugend etwas Einzigartiges erlebt haben. Und sie hatten das Glück, dass dieses einschneidende, alles prägende Ereignis nicht – wie bei ihren Eltern – ein katastrophaler Krieg war, sondern eine fantasiebegabte Revolte, ein utopisch befeuerter Aufbruch. Das magische Jahr „1968“ ragt eigentlich über die Geschichte hinaus, ist Mythos und Chiffre für eine Bewegung, „die um den gesamten Erdball ging, und die Herzen und Träume einer ganzen Generation eroberte“, wie sich der damalige Aktivist Daniel Cohn-Bendit erinnert.

HUXLEY UND HESSE ALS LEITBILDER #

Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hatte im Westen eine breit zugängliche Konsumgesellschaft hervorgebracht. Doch es wuchs eine Generation heran, die sich damit nicht zufrieden geben wollte und ihr Unbehagen mit der Welt lautstark zu artikulieren verstand. Für manche Historiker gilt „1968“ als erste globale Revolte, eingebettet und hervorgegangen aus vielfältigen Transformationsprozessen: Sie veränderte die Politik und Gesellschaft, die Kultur und Religion. Sie schweißte Revolutionäre, Rebellen und Romantiker weit über Ländergrenzen hinweg zusammen. Und sie steht gleichermaßen für Studentenunruhen und politischen Protest, für sexuelle „Befreiung“, alternative Lebensformen sowie die exzentrischen Ausdrucksformen der Hippie- Kultur. Doch „1968“ lässt sich auch als verquere spirituelle Bewegung deuten, deren Vermächtnis vielleicht erst in Zukunft voll zum Tragen kommen wird.

Ein besonderer Geist wehte im Lebensgefühl jener Generation. Er weckte Inspiration und führte zur demonstrativen Abkehr von materiellen Werten: Gemäß Erich Fromms berühmter Gegenüberstellung von „Haben und Sein“ neigten die 68er klar zu letzterem Prinzip. Viele von ihnen waren getrieben von einer Sehnsucht nach individueller spiritueller Erfüllung. Ein guter Teil des spirituellen Impulses jener Zeit verlief daher außerhalb der etablierten Religionsgemeinschaften. Eher folgte er literarischen Vorläufern, gewissermaßen einem Modell Aldous Huxley und einem Modell Hermann Hesse.

Der englische Schriftsteller Aldous Huxley war ab den 1930er-Jahren vom zynischen Intellektuellen zum passionierten Weisheitssucher geworden. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er sich in Kalifornien am Rande der Mojave-Wüste zurückgezogen, wo er eine Exerzitienstätte gründete und sich dem Studium religiöser Schriften sowie einer kontemplativen Praxis verschrieb. Doch während seine Frau Maria mehrfach mystische Bewusstseinszustände erlebte, blieb seine Annäherung an das Überweltliche unbefriedigend. Um vom Gewicht des rationalen Denkens befreit zu werden, das seine spirituelle Ader blockierte, musste der hagere Intellektuelle auf ein chemisches Hilfsmittel zurückgreifen. 1953 nahm er unter ärztlicher Aufsicht Meskalin zu sich – eine halluzinogene Droge, die in traditionellen Indianer-Kulturen als Teil religiöser Zeremonien verwendet wird. Damit katapultierte sich der Schriftsteller in eine mehrstündige Ekstase, die er im Essay „Pforten der Wahrnehmung“ wortgewaltig zu beschreiben verstand. Der Text wurde zu einem Schlüsselwerk der 68er-Generation.

Viele Jugendliche in den späten 1960er- Jahren taten es Huxley, dem „modernen Heiligen“ (A. Kupfer), gleich: Sie griffen zu psychedelischen Drogen wie LSD, um ihr „Bewusstsein zu erweitern“, wie es damals hieß. Der durchgeknallte „Drogenapostel“ Timothy Leary propagierte deren massenhaften Einsatz. Doch während diese Wirkstoffe von den Indianern nur im rituellen Setting, nach einer längeren Fastenperiode eingenommen werden, fielen sie in Amerika und Europa auf den Boden einer Konsumkultur, deren innere Logik darauf ausgerichtet ist, alles überall und jederzeit verfügbar zu machen.

VISION „BEWUSSTSEINSKULTUR“ #

Aus dem rituellen Drogengebrauch wurde seelenloser Konsum. Während das strenge Setting im traditionellen Kontext für Sicherheit sorgte, kam es in den westlichen Gesellschaften zu häufigen Abstürzen und Nebenwirkungen. Es war nicht nur die rasch einsetzende staatliche Repression, die zum Niedergang dieser Bewegung führte, sondern auch ein Zerfall von innen: Aus dem spirituellen Impuls wurde ein spiritueller Materialismus, der hinter der Maske höherer Ziele letztlich doch nur das egozentrische Verhalten nährt und kultiviert. Doch es gab Suchende, die auch lange Wege und Strapazen auf sich nahmen. Der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse hat in seiner Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ einen Geheimbund beschrieben, in dem sich die in allen Zeiten zerstreute Gemeinschaft der Träumer, Dichter und Fantasten symbolisch zusammenfindet. In den 1960er- Jahren fanden sie eine konkrete Route: Plötzlich tauchten viele Morgenlandfahrer auf und folgten dem „Hippy Trail“, dem Landweg nach Indien. Dort wartete Shiva, der Hindu-Gott des Yoga und der Rauschdrogen. Als mythischer Meister veränderter Bewusstseinszustände zog er viele junge Westler in seinen Bann. In der bekanntesten Darstellung erscheint er als kosmischer Tänzer in einem Flammenkreis. Mit einem Bein zertritt er den Dämon Apasmara, ein Sinnbild für Selbstsucht und Verblendung – und verdeutlicht damit das hehre Ziel aller seriösen spirituellen Traditionen.

Andere Morgenlandfahrer stießen auf die jahrtausendealte Lehre des Buddha, dessen Leben Hermann Hesse in seiner Erzählung „Siddharta“ poetisch verarbeitet hat. Doch während Hesse nicht direkt mit der buddhistischen Lehre in Kontakt gekommen war, erhielten manche 68er in asiatischen Klöstern authentischen Unterricht und trugen später wesentlich zur Verbreitung buddhistischer Praxis im Westen bei. Relevant sind dabei vor allem die säkularen Folgewirkungen: Denn es dauerte nicht lange, bis Elemente des meditativen Geistestrainings für therapeutische Zwecke nutzbar gemacht wurden. Mit der Entdeckung des Prinzips Achtsamkeit brachte der US-Biologe Jon Kabat-Zinn den Stein ins Rollen; eine Fülle von weiteren Anwendungen für Medizin, Psychotherapie oder Pädagogik sind seither entstanden. Viele Forscher widmen sich mittlerweile den Schnittstellen von Meditation und Wissenschaft.

Der Philosoph Thomas Metzinger plädiert heute für die Vermittlung von Bewusstseinstechniken, um die geistige Autonomie zu fördern und mit der Tiefendimension des menschlichen Geistes in Kontakt zu kommen – all dies im Rahmen einer „Bewusstseinskultur“, die sich um die Frage dreht, was „überhaupt interessante oder wünschenswerte Bewusstseinszustände sind“. Sollte diese Frage tatsächlich einmal groß auf die Agenda kommen, wäre das vor allem den 68ern zu verdanken. Denn deren spirituelle Sehnsucht hat nicht nur die Suche nach Gipfelerfahrungen beflügelt, sondern auch die langwierige Schulung von Herz und Geist.

DIE FURCHE, Donnerstag, 21. Dezember 2017