Differenziertes Schulsystem oder Gesamtschule? (Essay)#
Gertrude Brinek
Österreichs Schülerinnen und Schüler können spätestens nach dem Besuch der Volksschule zwischen mehreren Schularten (-typen) auswählen; man spricht insgesamt von einem gegliederten oder differenzierten Schulsystem. In manch anderen Ländern gibt es ein Schulangebot für alle – mit einer (starken) inneren Differenzierung. Im österreichischen gegliederten Schul- und Bildungssystem wird mit der jeweiligen Schulart ein spezifisches Bildungsziel angestrebt, wobei aber ein Wechsel bzw. ein Anknüpfen und Anschließen immer wieder möglich sein soll.
Für beide Systeme gibt es gute Gründe. Zumeist gehen sie auf ausgeprägte politische und kulturelle Traditionen zurück. In der Bildungswissenschaft wird dabei auf Begabungs- oder Förderbedarfstheorien, auf die Bedürfnisse der Wirtschafts- und Arbeitswelt oder auf soziale Gesellschafts-Gestaltungsziele verwiesen.
Eng damit verbunden ist die Entscheidung für oder gegen eine Ganztags- oder Halbtagsschule (eventuell mit einem Nachmittags-Betreuungsangebot).
Als Argumente für das gegliederte Schulsystem werden ins Treffen geführt: gemeinsame Allgemeinbildung/ Schaffung einer guten Grundlage, danach klare Schullaufbahn-Perspektiven, Lernen in relativ homogenen Gruppen (was als lern und leistungsfördernd gilt), Angebotsvielfalt bei gleichzeitiger Durchlässigkeit, spezifische Lehrer- und Lehrerinnen-Ausbildung u. a. Als Argumente für eine Gesamtschule sind etwa zu nennen: Abbau sozialer Barrieren, Förderung sozialen Lernens, hält die Schullaufbahnentscheidung lange offen, bewirkt mehr Schüler mit höheren formalen Abschlüssen.
Ähnlich wird für oder gegen Ganztagsschulen argumentiert: rascher gesellschaftlicher Wandel und ein hohes Veränderungstempo in der Arbeitswelt, keine Förderungschancen ungenützt zu lassen, d. h. zur Bewältigung der umfassenden Anforderungen nicht (nur) auf die Angebote des Elternhauses angewiesen zu sein. Andererseits sollen in der Halbtagsschule – mit Angeboten zum freiwilligen Besuch – das primäre Erziehungsrecht der Eltern und ein hohes Ausmaß an Wahlmöglichkeit gewahrt bleiben.
In der letzten Zeit ist besonders auf das Argument des gesellschaftlichen Wandels und die Zunahme der Berufstätigkeit beider Elternteile fokussiert worden. Im Bereich der pädagogischen Argumente lassen sich einerseits jene identifizieren, die eine reine „Unterrichts-/ Lern-Schule“ unterstützen, andererseits sind solche rund um die Verteidigung der umfassenden „Lebensschule“ zu nennen. In der Vergangenheit fielen die Entscheidungen zumeist stark pragmatisch geleitet. Aktuell fungiert der Begriff der Wahlmöglichkeit als politisch und pädagogisch angemessen. Besonders Schulen in nicht-staatlicher Trägerschaft (vielfach mit dem Sammelbegriff „Privatschulen“ umfasst) operieren mit einem spezifischen Erziehungsprofil und mit didaktischen Besonderheiten.
Die wissenschaftliche Unentscheidbarkeit endet und beginnt mit der Frage nach den Funktionen und Aufgaben der Schule und bleibt daher in ihrer Diskussionswürdigkeit in einer Demokratie immer lebendig.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: