Wurzeln auf drei Kontinenten #
Asien, Südamerika, Europa: Die Geschichte der Indo-Surinamer, die über Jahrhunderte und Ozeane hinweg auf der Erde verschoben wurden. #
Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 14. August 2014)
Von
Aletta Andre
Übersetzung: Veronika Dolna
Erster Juli 1863: Es ist kurz nach Sonnenaufgang, als Paramaribo, die Hauptstadt von Surinam, durch 21 donnernden Kanonenschüssen erwacht. Für rund 33.000 afrikanische Sklaven in dieser holländischen Kolonie am nordöstlichen Rand von Südamerika, sind sie das Signal für die Abschaffung der Sklaverei. Auf Raten, allerdings: Es gibt eine Übergangszeit von zehn Jahren, in denen die befreiten Sklaven unter „staatlicher Aufsicht“ bleiben, Vertragsarbeit mit minimaler Bezahlung. Aber sobald diese Frist um ist, werden die niederländischen Kolonialherren andere Arbeiter finden müssen, um die Kaffee- und Zuckerplantagen zu bewirtschaften.
Dabei helfen die Briten, Kolonialisten- Kollegen, die schon im benachbarten Britisch- Guayana Sklaverei abgeschafft haben, zumindest offiziell. Denn immer noch schicken die Briten Schiffsladungen von Indern, die die harte Arbeit in ihren Plantagen der Neuen Welt verrichten. Im Jahr 1879 gibt das Britische Königreich den Holländern die formale Genehmigung, auch Arbeiter aus Indien zu rekrutieren. Als Gegenleistung treten die Niederländer ihre Goldküste in Westafrika an England ab.
Drei Jahre später macht sich der Dreimastschoner Lalla Rookh („Tulpen-Wangen“) mit 410 indischen Arbeitern auf den Weg von Kalkutta nach Paramaribo. Der Großteil von ihnen kommt aus den Regionen, die heute Uttar Pradesh und West Bihar heißen, und wird getrieben von Armut, Hunger, Schulden oder persönliche Fehden. Viele von ihnen glauben, ihr Ziel, Surinam, hätte den vertraut klingenden Namen „Sri Ram“, und die Reise würde nur wenige Wochen dauern. Tatsächlich ist die Lalla Rookh dreieinhalb Monate unterwegs, elf Auswanderer sterben an Bord.
14.000 Kilometer von Indien #
5. Juni 1873: Die 399 verwirrten Inder kommen gerade rechtzeitig an, um die „befreiten“ Afrikaner zu ersetzen. Schon 85 Plantagen mussten seit den Kanonensalven vor zehn Jahren wegen fehlender Arbeiter geschlossen werden. Der Bedarf an ihnen ist in Surinam so hoch, dass über 34.000 Inder in die holländische Kolonie geschifft werden, bis 1916 ein gewisser Mahatma Gandhi der Praxis ein Ende setzt. Die holländischen Rekruter aus Indien rauszuwerfen, ist eines der ersten Zugeständnisse der britischen Raj an die indische Unabhängigkeitsbewegung. Mehr als die Hälfte der indischen Arbeiter beschließt aber, in Surinam zu bleiben. Die Regierung erlaubt ihnen, bis zu eineinhalb Hektar Land zu pachten, eine Fläche, die in Indien utopisch groß ist. Später gab es auch finanzielle Anreize, zu bleiben.
Im Jahr 1927 wurden 25.000 indische Arbeiter, die in Surinam geblieben waren, offiziell zu Niederländern. Sie sind 14.000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, aber sie pflegen ihre Kultur, wie es nur Menschen im Exil können.
Heute: Ein Sprung von fast 100 Jahren und über den Atlantischen Ozean nach Den Haag, Regierungssitz der Niederlande, Heimat der niederländischen Königsfamilie – und einer großen indischstämmigen Gemeinden. Über 160.000 Indo-Surinamer leben in den Niederlanden, um 10.000 mehr als in Surinam, die größte indisch-stämmige Minderheit in Kontinentaleuropa. In Den Haag bilden sie sieben Prozent der Stadtbevölkerung.
Über 40 Prozent von ihnen sind in der ersten Generation Niederländer und bezeichnen sich auch als solche, und nicht, wie die Elterngeneration noch, „Indo-Surinamer“. Die meisten jungen „Hindoestanen“, wie sie in Holland heißen, sprechen zu Hause Niederländisch, beherrschen den Dialekt ihrer Vorfahren aber zumindest ein bisschen. Für viele von ihnen ist Indien, nicht Surinam, die Quelle ihrer Kultur, ihrer Religion, ihrer traditionellen Kleidung, ihres Essens und ihres Filmgeschmacks. Im Den Haager Stadtteil Transvaal hilft Govinda Jewlal einem indisch aussehenden Mann dabei, Bollywood-DVDs auszuwählen. „Was ist mit Dabangg 2“, fragt Jewlal. „Gesehen“, sagt der Mann. „Jab Tak Hai Jaan?“ - „Vielleicht. Zeigen Sie’s mir?“ Zwanzig Minuten später, hat der Kunde fünf DVDs gekauft. Er zieht seine Jacke an, verabschiedet sich auf Holländisch, „Doei!“, und geht.
250 Gulden für 90 Minuten Heimat #
Wenn es einen Ort in den Niederlanden gibt, wo Hindi Songs, bunte Roben, Ganesha- Statuen und der scharfe Geruch von Haaröl mit Garam Masala hinpassen, dann ist es in Transvaal. Hier gibt es Geschäfte mit Bollywood- DVDs, in Sari gewickelt Schaufensterpuppen, Goldschmuck beim Juwelier Laxmie, Schnellkochtöpfe und Pfauenfedern im indischen Kaufhaus, Speisekarten mit Curry, Dal und Chapati: Dutzende südasiatische Unternehmen bringen die Farbe des Subkontinents in die sonst grau-braunen Straßen.„ Vor fünfundreißig Jahren gab es all das nicht“, sagt Govindas Vater, Ashok, der ein Reisebüro führt. Erst seit den späten 90er- Jahren tauchen immer mehr indische Geschäfte „In den 70ern und 80ern waren die Menschen zu beschäftigt damit, Arbeit und Häuser zu finden“, glaubt Ashok.
Er zog 1975 aus seiner Heimat Surinam in die Niederlande, kurz nachdem die Kolonie zu einer Republik wurde. Weil er keine kulturspezifische Unterhaltung fand, eröffnete er die erste Bollywood-Videothek der Niederlande, die jetzt sein Sohn Govinda führt. Der Anfang war nicht leicht: Die Videokassetten mussten aus Großbritannien importiert werden und kosteten bis zu 250 Gulden, mehr als 100 Euro. Aber das war egal. „Wir waren einfach filmsüchtig“, lacht er. Damit war Ashok nicht allein. Immer mehr „Hindoestanen“ zogen nach Transvaal, sein Geschäft wuchs schnell.
„Meine Eltern borgten jeden Sonntag einen Film von Govinda aus“, erinnert sich der 25-jährige Satish Roopram bei einen schwarzen Kaffee in einem nahe gelegenen Café. In den Filmen hörte er zum ersten Mal von Indien. Die selben Filme, die Ashok an seine Jugend in Surinam erinnerten, inspirierten Satish zu seinem ersten Urlaub in Inden. „Ich fühlte mich sofort zu Hause dort“, sagt er. Ein Jahr später begann er sein Studium in Delhi.
Wie viele andere Hindoestanen seiner Generation sucht Satish seine Wurzeln nicht in Surinam, wo die Eltern, Großeltern und manchmal sogar Urgroßeltern geboren wurden, sondern in Indien.
8000 Kilometer von Surinam #
25. November 1975: Die niederländischen Flaggen um Paramaribo werden eingeholt. Am Nachmittag unterzeichnet Königin Juliana in Den Haag die Deklaration über die Unabhängigkeit von Surinam. Gleichzeitig kündigt die Regierung an, dass jeder, der in den nächsten fünf Jahren in die Niederlande zieht, die Staatsbürgerschaft behält. Seit Premierminister Henck Arron zwei Jahre zuvor verkündete, dass Surinam eine unabhängige Republik werden würde, haben bereits 36.000 Hindoestanen die fast 8000 Kilometer lange Reise in das Land ihrer früheren Kolonialherren angetreten.
Ein Militärputsch unter Désiré „Desi“ Bouterse im Jahr 1980 treibt den Exodus an und setzt sich auch nach dem Ende seiner Diktatur 1987 fort. Bis dahin sind schwere Schäden entstanden, das Land ächzt unter Hyperinflation und Arbeitslosigkeit. Die niederländische Wirtschaft hingegen blüht, und immer mehr Menschen aus der alten Kolonie wollen ein Teil davon sein.
4000 Kilometer von den Niederlanden #
Heute: Obwohl der öffentliche Diskurs in den Niederlanden sich Einwandern gegenüber zuspitzt, werden die Hindoestanen als wirtschaftlich erfolgreich und gut erzogen angesehen. Auch im Vergleich zu ihren Landsmännern anderer ethnischer Herkunft: Das Bild der fleißigen, anständigen Hindoestanen im Gegensatz zu den faulen Kreolen ist ein koloniales Stereotyp, das bis heute überlebt hat, nicht zuletzt unter den Hindoestanen selbst.
„Ich werde nicht gern als surinamischer Einwanderer abgestempelt“, sagt der 25-jährige Satish, „Ich bin anders.“ Als er ein Teenager war, fielen ihm Krishna-Bilder und Om- Zeichen auf T-Shirts auf, und er begann, Indien als aufstrebende Kraft in der Welt zu sehen. „Ich fand es cool, dass Indien nicht mehr als schmutziges Dritte-Welt-Land, sondern auf eine positive Art sichtbar wurde.“
Professor Chan Choenni, der sich an der Freien Universität Amsterdam mit Indo-Surinamischer Migration befasst, meint, dass der indische Wirtschafts-Aufstieg der Diaspora einen neuen Anker in die Heimat gab. Am deutlichsten sichtbar sei das bei den Hindoestanen, einer Gruppe, die wiederholt über die Erde verschoben wurde. „Die indische Kultur war in Surinam schon fast verschwunden“, sagt Choenni, ein fröhlicher, grauhaariger Mann in den letzten Jahren seiner Karriere. „In meiner Jugend in Paramaribo mussten wir uns der kreolischen Kultur und Sprache anpassen, wenn wir ein Teil der Gesellschaft sein wollten. Wir mussten die Statuen der Götter verstecken, sie galten als rückständig. Heute sind sie trendy.“ Auch Kleidung, Essen, Musik und Filme verbinden Mitglieder der Diaspora miteinander. Darüber definieren sich „Globale Inder“, wie Choenni sie nennt. Egal, wo sie leben.
Nostalgie ist nicht der einzige Grund für diese Bewusstseinsverschiebung. Menschen, die ihre indischen Wurzeln juristisch nachweisen, brauchen kein Visum, um nach Indien zu reisen. Mit Einschränkungen können sie dort sogar leben und arbeiten. Es ist mittlerweile wahrscheinlicher, dass sich ein Hindoestane ein Haus in Goa kauft als in Surinam zu investieren.
Auch die niederländische Regierung sieht in den Hindoestanen ein großes Potenzial. Mit großem Einsatz werden Messen, Kongresse und Festivals organisiert, die die Verbindungen zwischen Indien und den Niederlanden stärken sollen. Die Indo-Surinamer sind dafür der ideale Kit. Den Haag setzt nicht mehr auf China, sondern auf Indien als Wirtschaftspartner. „Die große Hindoestanen- Gemeinschaft in unserer Stadt ist ein Alleinstellungsmerkmal“, sagt Ramon Jaikaran, der das Wirtschaftsressort der Stadt berät. Nicht alle Hindoestanen freuen sich darüber. Zu sehr konzentriere sich die Politik auf gewinnbringende Expats, zu wenig Aufmerksamkeit bekämen die, die längst da sind. Das Museum über Indo-Surinamer wurde vor einem Jahr geschlossen. Jaikaran verteidigt die Entscheidung der Stadt: „Es gab kaum mehr Besucher. Die Mehrheit der Hindoestanen hat mehr Interesse an kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen, die sie mit Indern auf dem Subkontinent verbindet.“
140 Jahre gegen eine große Identität #
Satish, der 25-Jährige, der in Delhi Hotelmanagement studierte und später dort ein Restaurant eröffnete, reiste bis heute nicht in das Dorf, in dem sein Urgroßvater lebte, bevor er nach Surinam auswanderte. „Meine kulturellen indischen Wurzeln sind wichtiger für mich als dieses Dorf.“
Surinam ist für ihn und viele andere junge Hindoestanen hingegen ein schwarzes Loch in der Geschichte, ein Zeitraum, den sie ausblenden. Vielleicht liegt es daran, dass die Erinnerungen derer, die von dort kamen, schmerzhaft sind. Aber Amar Soekhal hat kein Verständnis für die verbindende Kraft von Kleidern, Musik oder Essen. „Junge Hindoestanen verschieben ihren Fokus auf Indien und negieren damit ihre eigene Geschichte“, sagt er. „Man kann nicht einfach 140 Jahre abschütteln.“
Vielleicht wird die nächste Generation von Hindoestanen Surinam mehr Platz in ihrer persönlichen Geschichte einräumen. Aber noch kann Surinams Rolle in dieser Geschichte, die hunderttausende Menschen entwurzelte, und auf drei Kontinente verstreute, nicht mithalten, mit der Sehnsucht nach der großen, glitzernden, indischen Identität.
Dieser Artikel erschien im indischen Magazin „Motherland“.
Die Stationen der Hindoestanen#
Surinam #
Per Schiff kamen indische Arbeiter in das kleine Land an der Nordküste Südamerikas, als es noch eine holländische Kolonie war. Seit 1975 ist der Staat mit nur 550.000 Einwohnern unabhängig.Niederlande #
Nach der Unabhängigkeit konnten Surinamer die niederländische Staatsbürgerschaft annehmen. Zigtausende indischstämmige Landsmänner übersiedelten nach Europa.
Indien #
Wo die Ur(ur)großelterngeneration vor 140 Jahren weg ging, zieht es die jungen Hindoestanen wieder hin. Sie fühlen sich kulturell am ehesten auf dem Subkontinent zu Hause.