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"Die Männer tun ja nichts!"#

Ein Besuch bei den Mosuo im Südwesten Chinas, einer Volksgruppe, bei der die Frauen mehr als eindeutig das Sagen haben.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 16./17. Jänner 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Wolfgang Kuhn


Gegend rund um den Lugu-See
Erfreut sich zunehmender touristischer Beliebtheit: die Gegend rund um den atemberaubend schönen Lugu-See.
© Kuhn

"Ich muss jetzt wohl mal meine Schwester anrufen", sagt Lacu und kratzt sich am Kopf. Neben ihm steht ein Minibus, aus dessen Kühlerhaube eine Rauchwolke aufsteigt, während die meisten Passagiere die Panne nutzen, um sich zu übergeben. Seit fünf Stunden sitzen sie bereits im Bus, gleich neben der schmalen Straße gähnt ein Abgrund, in dessen Tiefe sich ein tosender Fluss windet, während in der Ferne die ersten schneebedeckten Gipfel des Himalajas aufragen. Manchen der Reisenden setzt die Höhenluft zu, den meisten stecken die endlosen Kurven in den Knochen, die sich über diverse 4000er schlängeln.

Das Ziel der Touristen liegt im schwer zugänglichen Südwesten der Volksrepublik China, im wilden Grenzgebiet der Provinzen Yunnan und Sichuan: das Gebiet der Mosuo, jene geheimnisvolle Volksgruppe, die sich an den Ufern und in den Tälern des atemberaubend schönen Lugu-Sees angesiedelt hat. Das letzte Matriarchat der Welt, wie man sich im Reich der Mitte erzählt.

Die Stimme des Matriarchats durchschneidet die Stille der Bergwelt, als Lacus Handy endlich Empfang hat: Binma, so heißt seine Schwester, peitscht einige präzise Anweisungen durch den Hörer, die der Bruder kommentarlos abnickt; nach einigen Minuten scheint die Sache geregelt zu sein: "Also Leute, ihr werdet jetzt von Taxis abgeholt, ein paar müssen jedoch später mit mir mit; die Pension meiner Schwester ist ein wenig weiter weg." Hervorragend, wo könnte man das Leben im Matriarchat besser kennen lernen?

"Echtes" Matriarchat?#

Zwar gibt es bei den Expertinnen rege Diskussionen darüber, ob es sich bei den Mosuo um ein "echtes" Matriarchat handelt, denn das würde bedeuten, dass die Frauen auch politische Macht haben - was nicht der Fall ist. Fest steht jedoch, dass die Männer nicht viel zu melden haben: Status, Haus, Tiere, Geld - alles gehört den Frauen. Innerhalb einer Großfamilie ist die Frau der Haushaltsvorstand, genannt "ah mi", sie entscheidet alleine über ihre Nachfolge und bestimmt deren Zeitpunkt, symbolisiert durch die Übergabe der Schlüssel zur Vorratskammer.

Im Wohnraum spiegelt sich die Dominanz der Frauen in der Sitzordnung: Ihr Platz ist auf der linken, statushöheren Seite des Feuers. Auch haben nur Frauen einen festen Wohnplatz im Gebäude, erwachsene Brüder müssen in Gemeinschaftsräumen oder im Heu schlafen. Oder woanders. Dazu kommen wir noch. Frauen sind innerhalb der Sippe nicht nur die Finanzministerinnen des gemeinsamem Budgets, sondern verrichten auch nahezu sämtliche Arbeiten wie Waschen, Feuer unterhalten, Kochen, Holz sammeln und hacken, die Feldarbeit, Reparaturarbeiten, Pflegedienste und das Bedienen der Männer. Wer also glaubt, dass es sich bei dieser Gesellschaftsform um ein umgekehrtes Patriarchat handelt, irrt.

Was also machen die Männer? Nicht viel. Ein bisschen Taxi fahren, das Vieh schlachten, fischen in den azurblauen Fluten des Lugu-Sees, ansonsten viel Abhängen mit Freunden. Praktisch gesehen, hat das nicht nur Vorteile. Auf die Frage, warum Lacu nicht die Motorhaube öffnet, um sich den Schaden genauer anzusehen, antwortet er: "Woher soll ich wissen, wie das Ding aufgeht? Bei uns zu Hause macht das immer meine Schwester." Der Mann ist 32 Jahre alt. Und auch den Vorschlag, vielleicht einmal unter das Auto zu blicken, lehnt er ab, man könne sich ja die Hose schmutzig machen, das gibt Ärger.

Einige Stunden später begrüßt Binma ihren großen Bruder schließlich mit einem Klaps auf den Hinterkopf und drückt ihm ein Bier in die Hand. Sofort ist klar, wer in diesem Haus am ruhigen Südufer des Sees der Chef ist: Mit hohen Wangenknochen, aufgeweckten Augen, kerzengerader Haltung und einer dominanten Stimme strahlt Binma in jeder Sekunde Alpha-Bewusstsein aus. Wenn sie aus vollem Halse lacht, und das tut sie häufig, wirken ihre Zahnreihen wie ein durchlöcherter Gartenzaun, ihr zu Zöpfen geflochtenes Haar bebt im Takt des Kicherns. Ja, ihr Bruder sei ein Trottel, aber sie habe ihn lieb.

Besuchs- & Wanderehe#

Der Zurechtgewiesene trollt sich ins Hinterzimmer, eine Tibetdogge bewacht sein viertes Bier. Binma ist währenddessen bei Flasche Nummer 7, kocht, telefoniert, hackt Holz, putzt, organisiert und räumt gleichzeitig ab, während sie nebenbei die Gäste unterhält. Als einer sein Bier verschüttet, wischt sie es auf, die Männer rühren keinen Finger. Auf die Frage, warum die Frauen als vermeintliche Oberhäupter sämtliche Arbeiten übernehmen, muss Binma wieder lachen: "Was bleibt uns denn anderes übrig? Die Männer tun ja nichts!" Und nach einer kleinen Pause fügt sie mit anzüglichem Lächeln hinzu: "Außerdem müssen sie sich ihre Kräfte sparen, wenn sie uns später in der Nacht besuchen kommen."

Blickfang und Familienoberhäupter: Die Frauen der Mosuo
Blickfang und Familienoberhäupter: Die Frauen der Mosuo, die keine herkömmliche Ehe kennen, am Ufer des Lugu-Sees.
© Kuhn

Die Besuchs- oder Wanderehe ist die von den Mosuo praktizierte Form der Partnerschaft, in der sich Frauen - kurz gesagt - Liebhaber halten: einen, zwei, unter Umständen auch mehrere, vielleicht für eine, eventuell für mehrere Nächte. Die Mosuo kennen keine Ehe im herkömmlichen Sinn, diese wird vielmehr als unnatürlich und als Gefahr für die Familie betrachtet. Mit 13 Jahren werden beide Geschlechter volljährig; Mädchen im gebärfähigen Alter - und nur sie - bekommen eine eigene Schlafkammer, das "Blumenzimmer", wo sie ihre Liebhaber empfangen, die sie selbst auswählen. Partnerschaften brauchen keine Bestätigung von dritter Seite und können ohne Umstände jederzeit aufgelöst werden. Zufall oder nicht: Die Kriminalitätsrate ist in den Bezirken der Mosuo verblüffend gering, häusliche Gewalt und Vergewaltigungen sind de facto unbekannt.

Der soziale Friede fordert jedoch seinen Tribut. Am Morgen des nächsten Tages sieht man draußen überall desorientierte Herren mit zerbeulten Frisuren, die scheinbar ziellos über die Straße wanken. Alles "azhu", also Liebhaber, die auf dem Weg nach Hause zu ihrer Mama sind. Binma und ein paar weitere Frauen sind hingegen schon wieder im Haushalt beschäftigt und arbeiten. Die Stimmung erinnert ein wenig an eine progressive Frauen-WG, mit ein paar Taugenichtsen im Haus, die durchgefüttert werden, weil es niemand übers Herz bringt, sie endlich rauszuschmeißen.

Muttersee#

Das gilt auch für einen sechsjährigen Balg, der über die Flure tobt und sich nur durch eine ernsthafte Ermahnung des Hausvorstandes beruhigen lässt: "Wenn du nicht brav bist, wirst du verheiratet", droht sie. Das ist ernst gemeint, denn in der Vorstellung der Mosuo kommt eine Ehe im herkömmlichen Sinne der Hölle ziemlich nahe. Insofern überrascht es auch nicht, wenn man auf die Frage nach dem Vater des Störenfrieds nur ein Achselzucken als Antwort bekommt: "Spielt das eine Rolle?" Offensichtlich nicht: Ein Mann hat keine finanziellen oder sozialen Verpflichtungen gegenüber den Kindern, die er gezeugt hat. Seine Fürsorge richtet sich auf die Kinder seiner Schwestern und Kusinen, mit denen er als Onkel in einem Haushalt zusammenlebt und die ihrerseits für ihn sorgen, wenn er alt geworden ist.

Immerhin, die Kräfte von Lacu reichen gerade noch für eine Bootsfahrt über den Lugu, der in der Sprache der Mosuo "xie na mi" genannt wird, der Muttersee. Im klaren Wasser spiegelt sich ein 3600 Meter aufragender Granitfelsen, der in der ganzen Region als Heiligtum verehrt wird. Er heißt "ganmu", also weiblicher Berg, während die umliegenden kleineren Hügel als "männliche Berge" bezeichnet werden. Auch große Bäume gelten als weiblich - und kleine als männlich. Der Gedanke, sich als Mann durch eine derartige Sprachgebung diskriminiert zu fühlen, kommt Lacu nicht in den Sinn. Nur darüber, dass ihm seine Schwester zu wenig Geld gibt, kann er sich heftig aufregen.

Mit drei Fingerspitzen#

Uneingeschränkt erkennt er hingegen die Vorzüge der Wanderehe an: "An den Haustüren der Frauen ist ein Haken angebracht. Dort hängen wir unsere Hüte auf, damit jeder weiß, dass die Frau Besuch hat. Der Hut kann jederzeit von einer der Seiten abgehängt werden, dann ist es eben vorbei. Eine Tür geht zu, zehn andere auf." Und woher weiß Mann, ob er gerade willkommen ist? "Wenn dich eine Frau mit drei Fingerspitzen an den Handinnenflächen berührt, hat sie Interesse an dir", sagt Lacu und kitzelt sich zur Demonstration gleich einmal selbst.

Von derartigen Feinfühligkeiten haben die meisten der überwiegend chinesischen Touristen noch nichts gehört. Nicht wenige kommen in der Erwartung von schnellem, unkompliziertem Sex, befeuert durch die Bilder der Werbung, die balzende Mosuo-Frauen versprechen, die jodelnd durch die Dörfer hüpfen. Von plumpen Anmachversuchen ist Binma zwar genervt, eine Gefahr für ihre traditionelle Lebensweise sieht sie im Tourismus allerdings nicht:

"Wir haben Mao und die Kulturrevolution überlebt, also werden wir die paar Gäste auch überstehen." Das Problem liege eher darin, dass immer mehr junge Frauen wegziehen in die großen Städte. Die neue Autobahn wird diesen Trend zweifellos beschleunigen. "Selbst schuld. Dann müssen sie eben heiraten", sagt Binma und lacht zum Abschied noch einmal lauthals.

Wolfgang Kuhn lebt seit sechs Jahren in China und arbeitet im Bereich Medien und Journalismus.

Wiener Zeitung, Sa./So., 16./17. Jänner 2016


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