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Eine neue Leistungsgesellschaft #

Fleiß und Disziplin sind Tugenden, mit denen allein wir nicht weiterkommen. Wir brauchen eine Leistungsgesellschaft der Wissensarbeit. Und zwar ein wenig dalli.#


Von der Wiener Zeitung (2. Oktober 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Wolf Lotter


Wolf Lotter ist Journalist und Autor. Sein neuestes Buch 'Strengt Euch an! Warum sich Leistung wieder lohnen muss' ist Ende September bei Ecowin erschienen. Er gehörte unter anderem der Gründungsredaktion des Magazins 'News' an, war Gründungsmitglied der Wirtschaftszeitschrift 'brand eins' und war für das 'profil' und die Stadtzeitung 'Falter' tätig (www.wolf-lotter.de).
Wolf Lotter ist Journalist und Autor. Sein neuestes Buch "Strengt Euch an! Warum sich Leistung wieder lohnen muss" ist Ende September bei Ecowin erschienen. Er gehörte unter anderem der Gründungsredaktion des Magazins "News" an, war Gründungsmitglied der Wirtschaftszeitschrift "brand eins" und war für das "profil" und die Stadtzeitung "Falter" tätig (www.wolf-lotter.de).
Foto: © Katharina Lotter

Kaum vier Jahre waren vergangen, seit der "Totale Krieg" der Nazis gegen den Rest der Welt in einer totalen Niederlage geendet hatte. In diesem Jahr 1949 schrieb der große deutsche Dichter Bert Brecht sein Gedicht "Wahrnehmung". Darin heißt es: "Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebene."

Das waren sehr weitblickende Worte zu dieser Zeit, in denen die meisten kaum noch den Hang hochkamen, jene Steilwand der täglichen Sorgen und Nöte, die der Krieg hinterlassen hatte. Es war ein Krieg gewesen, in dem die Industrie nicht nur die Waffen geliefert hatte, die Munition, die Geräte für den Massenmord, sondern auch - bis heute weitgehend übersehen - die geistige Grundlage für das Morden selber. Die Doktrin der "Gemeinschaft", des Kollektivs, der Massengesellschaft, sie hatte in diesen Krieg geführt, in ihrer Unbarmherzigkeit gegenüber jeder Vielfalt und Abweichung.

Es ist, um ein weiteres Brecht-Wort aufzugreifen, jener Schoß, der immer noch fruchtbar ist - schon wieder. Industrie leitet sich vom lateinischen Wort "industria" ab, von Fleiß. Das kann man, im besten Sinne, als ausdauerndes Arbeiten, als hartnäckiges Dranbleiben an der Sache verstehen, die es auch dort braucht, wo Ideen und Vorstellungen, also Wissensarbeit, Realität werden. Diese Ideen sind heute der Rohstoff, aus dem Neues erwächst, bessere Lösungen, mehr Vielfalt, mehr Diversity im eigentlichen Wortsinn. Doch viel öfter dient der Fleiß nicht dieser unternehmerischen Geschäftigkeit, sondern der stupiden Routine.

Immer nur Weiter-so statt Besser-wäre#

Das Weitermachen wie bisher, es ist in Fragen des Klimas und der Transformation zu einer Welt, in der Komplexität und Vielfalt besser erschlossen werden, um Probleme und Bedürfnisse genauer zu lösen, dieses routinierte Weiterwursteln ist immer noch die Regel, nicht die Ausnahme. Dabei lässt sich durchaus einiges erreichen, wie der Wohlstand der Konsumgesellschaft zeigt. Doch all das dient fast immer nur dem Weiter-so als dem Besser-wäre. Die Mühen der Ebenen haben kein Ziel vor Augen, keinen Sinn. Und sie sind uns immer noch kulturell fremd. Arbeit, das sind Schweiß und Tränen, hartes Malochen, Schuften bis zum Umfallen. Doch blinder Eifer schadet nur.

Wer die Mühen der Gebirge kennt, der hat so was, doch was, wenn man dann am Gipfel steht und dort nur ein trostloses Plateau vorfindet, eine endlose Weite, die keinen Anhaltspunkt bietet? Die Mühen der Ebene sind perfide, in den endlosen Weiten kann man überallhin - und damit nirgends. Das erinnert an Carl Merz und Helmut Qualtinger, der als Halbwilder mit seiner "Maschin" zwar nicht weiß, wo er hinwill, dafür aber schneller dort ist. "Rasenden Stillstand" nannte das der französische Philosoph Paul Virilio einmal.

Geistige Fitnesscenter für die intellektuellen Muskeln#

Die Ebenen sind materiell komfortabel, aber geistige Nulldiät. Unsere materielle Arbeit wird zusehends von Robotern, Algorithmen, Automaten erledigt. Die Digitalisierung ist ein enormer Automationsschub. Die Leistung, die unsere Werkzeuge verrichten, ist historisch einmalig. Aber sie kann nur dann ihren Segen, ihren Sinn entwickeln, wenn möglichst viele sich beim Denken ein wenig anstrengen - sozusagen als Ausgleichssport für das Weniger an Kraftanstrengung, das im Langen Marsch durch die Ebenen erforderlich ist. Es braucht geistige Fitnesscenter, in denen wir unsere intellektuellen Muskeln stählen.

Ideen, die kein Ziel haben, gehen verloren. Sie sind traurige Restbestände jener unzähligen Visionen und Utopien, die nie auf den Boden kommen. Woran liegt das? Oft daran, dass man das Tun aufs Morgen verschiebt, die Selbstverantwortung gleich mit. In einer Zivilgesellschaft gilt natürlich auch in geistiger Hinsicht das Subsidiaritätsprinzip - lass nicht andere für dich denken, mach das selber. Das hat nichts mit vernunftfreiem "Querdenken" zu tun, sondern ist unabdingbarer Teil jenes kritischen und selbstkritischen Prozesses, zu dem Selbstbestimmung führen soll. Wir sind fleißig, aber wir strengen uns zu wenig an.

Was bedeutet Leistung also in der Wissensgesellschaft? Zuallererst: Selbermachen. Die Lösung und Bewältigung der Klimakrise, zukunftssichere Sozialsysteme und eine neue, bessere Arbeitswelt brauchen unseren vollen Einsatz. John F. Kennedy hat in seiner Mondflug-Rede von 1961 versprochen, einen Menschen auf den Mond zu bringen, nicht weil es einfach war, sondern weil es schwierig war. Genau das ist der Anspruch, den sich die vielfältigen Kulturen Europas gemeinsam geben sollten. Unser Können, unser Know-how muss originär sein, sich in Qualität deutlich abheben von allem, einen deutlichen Unterschied machen.

Entscheidend beim Leitungsschub wird sein, dass das seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, pessimistische Selbstbild der Europäer einem nüchternen, offene Zukunftsoptimismus weicht. Niemand verändert sich ohne Aussicht auf Besseres, und niemand strengt sich - für geistige Arbeit gilt das noch mehr als für körperliche - an, wenn kein Sinn, kein Warum dahintersteckt. Die Suche nach dem "Purpose" hat eben erst begonnen. Sie ist der Kern der neuen Leistungsgesellschaft, in der es eben nicht mehr um stures Parieren, um Mitmachen, Einordnen, Anpassen geht, sondern um echte Individualität, bei der jede und jeder sich anstrengt, so gut es geht, um ein Leben zu führen, dass mehr ist als die Zeitspanne zwischen den beiden sozialversicherungstechnischen Ereignissen Geburt und Tod.

Reden allein hilft nicht, Selbstverantwortung schon. Es gilt der Satz von Ernst Bloch aus "Das Prinzip Hoffnung": Wir müssen "ins Gelingen verliebt sein". Das zu lernen, ist die Aufgabe nicht nur der Jungen, sondern auch der Alten. Kein Weiter-so, aber eben auch kein Rückbau, kein Schrumpfen, kein Zurück. Die Hoffnung liegt vor uns, hinter der eintönigen Ebene liegt ein weites Land. Darin finden wir uns wieder. Brechen wir auf!

Wiener Zeitung, 2. Oktober 2021


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