Erlösung des Übels von sich selbst #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag 23. Dezember 2015)
Von
Peter Strasser
Ding-Dong, E-Mail zu früher Stunde. Ich war aber schon zeitig beim Bäcker, wo einer, der einst Bettler sein durfte, gleich neben der Türe steht, und sich nun – wegen irgendeines Betteleigesetzes – als Zeitschriftenverkäufer platzieren muss. Niemand will seine Zeitschrift, ich auch nicht. Das erst macht den Bettler elend. Er soll sich als würdig erweisen, also ist er Dienstleister. Wie immer drückte ich ihm rasch ein Geldstück in die Hand, verlegen. Er lächelte mich an. Ja, er versteht meine Verlegenheit und das beschämt mich umso mehr. Dann wieder zu Hause. Ding- Dong: „Sehr geehrter Herr Professor, in der katholischen Welt wird 2016 das Jahr der Barmherzigkeit begangen. Deshalb komme ich mit der Anfrage zu Ihnen: Können Sie uns einen kleinen Essay zum Thema ‚Barmherzigkeit‘ schreiben?“ Ich sage sofort zu. Denn gerade war mir beim Bäcker etwas widerfahren, was der Ratio unserer Zeit entspricht: Wir geizen nicht mit Freigebigkeit, wir sind karitativ gesonnen und sozialstaatlich hoch munitioniert. Doch die Empfänger unserer Wohltätigkeit müssen sich, im Dankbarkeitsgegenzug, als würdig erweisen. Nicht wahr? Das ist unser humanitäres Drohfragezeichen. Und uns entgeht, dass wir im Begriffe sind, unser Bestes zu opfern. Denn erst die Bereitschaft, uns der Elenden ohne Ansehen ihrer Würdigkeit zu erbarmen, macht uns wahrhaft zu Mitmenschen. Unserer Humanität fehlt das Barmherzigkeitsherz.
Mildtätigkeit: auch nicht alles#
Wieder zeitig beim Bäcker. Ich will gleich nach dem Frühstück mit meinem kleinen Essay über die Barmherzigkeit beginnen. Der Bettler neben der Tür des Bäckers ist verschwunden. Ich frage im Geschäft nach. Man weiß nichts. Aha. Ich weiß jedoch, dass die Besitzerin des Geschäfts, eine Kirchgängerin, dem Pfarrer erlaubte, einen von „jenen“ – in ihren bigotten Augen ganz und gar Unwürdigen – neben dem Geschäft zu platzieren, ordnungsgemäß als Zeitschriftenverkäufer adjustiert. Die unverkäufliche Zeitschrift heißt Global, sie könnte ebenso gut „Nirgendwo“ heißen: Utopia. Das Frühstück will mir nicht recht schmecken. Als mich meine Frau fragt, was mir über die Leber gelaufen sei, antworte ich kurz angebunden: „Mildtätigkeit ist auch nicht alles.“ Und als sie mich nur anschaut, frage ich schroff, wie sie mich denn behandeln würde, falls ich ihr an der Straßenecke begegnete – als Bettler. Da sagt sie: „Ich kenn dich, du bist eh immer gleich beleidigt.“ Darauf ich: „Und?“ Darauf sie: „Ich würde dich selbstverständlich mit Würde behandeln, mein Herr!“ Und sie fügt etwas Liebevolles hinzu, sodass ich nicht anders kann, als sie über den Tisch hinweg zu umarmen. Trotzdem setze ich störrisch nach – der zu schreibende Essay rumpelt in meinem Kopf herum: „Und wenn ich aber einer von jenen wäre, ein Unwürdiger??“ Darauf sie: „Dann würde ich halt so tun, als ob du keiner wärst. Können wir jetzt, bitte, weiterfrühstücken?“ Und wie!
Verblassende Erinnerung an den 13. November 2015. Eine Terrorserie hatte Paris in den Ausnahmezustand versetzt. Die Terroristen hatten, bevor sie Hunderte niederschossen, „Allah ist groß“ gebrüllt. Bei all der Wut und Trauer war jener Gott des Schreckens vergessen, der, um groß zu sein, eines Blutzolls bedarf. Frankreich ist ein laizistischer Staat, der gottlose Humanist hat sich seit jeher abgewendet. Hier, bei uns, die wir im tiefsten Frieden leben, kehre ich vom Bäcker mit duftendem Frühstücksgebäck zurück, nach Hause. Der Bettler neben der Tür des Bäckerladens war wieder da (er hat kein Zuhause mehr), die Zeitschrift, die er in den Händen hielt, hieß wie immer Global. Ich denke wie immer ans Nirgendwo – Utopia –, das mich an den „Gott aller Menschen“ erinnert. Gemäß jüdisch-christlicher Lehre ist Gottes Wesen erfüllt von Barmherzigkeit: „Der HERR ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“, so steht’s im Zweiten Buch Mose. Weswegen wir, seine Geschöpfe, uns der Barmherzigkeit befleißigen sollten – auch denen gegenüber, die unser und ihr eigenes Leben zerstören, während sie brüllen: Allahu akbar! Wieder zuhause werfe ich einen Blick durchs Fenster auf die graue Klosterkirche gegenüber meinem Haus. Sie steht noch. Ob die Karmelitinnen dort drinnen für die Terroristen eine Kerze des Schweigens angezündet haben? Die weltliche Ethik kennt keine Barmherzigkeit, nur Gerechtigkeit und „Humanität“. Das ist zu wenig.
Aidskonzerte und Krebsdiscos#
Mein Alptraum: Der Lebenskunstphilosoph glaubt an alle Götter, er ist ästhetischer Polytheist. Der gottlose Humanist glaubt an gar keinen Gott. Durch seine Spendentätigkeit hat er bereits viele vor dem Verhungern gerettet. Auf den Einzelnen komme es an, sagt der gottlose Humanist. Der Lebenskunstphilosoph findet das kleinbürgerlich, er rettet keinen Einzelnen, besucht stattdessen Aidskonzerte und Krebsdiscos. Der gottlose Humanist kann seinen Humanismus nicht erklären. Dass er nicht erklären kann, warum es auf den Einzelnen ankomme, macht ihn heimlich böse auf die, die er rettet. Er könnte sich ein steinernes Herz einpflanzen und nichts in der gottlosen Welt würde ihn ins Unrecht setzen: „Und was, wenn ich euch fallen, euch sterben ließe? Was wollt ihr mir entgegenhalten außer eure Seufzer?“ Es ist die Möglichkeit des Unmenschen in ihm, gegen die der gottlose Humanist wehrlos bleibt. Dagegen steht einzig sein Engagement. Der Lebenskunstphilosoph schmunzelt: Engagement war gestern, Achtsamkeit ist heute. Sanft mischt er sich unter die geladenen Gäste der Armutsgala …, und so vernebelt auch der Alp, der mir im Traum auf Brust und Seele drückte. Erwachend glaube ich noch, die geschundene Erde seufzen zu hören. Da fällt mir ein, wovon ein jeder Versuch über die Barmherzigkeit handeln muss: Misericordia, das ist keine Erdentugend; ihr Ursprung liegt außerhalb der Welt. Und ihre Werke sind ein Skandalon: Sie erlösen uns nicht vom Übel, sondern das Übel von sich selbst.
Unerträgliche Menschlichkeit#
Paris ist, schon bald nach dem Terror, wieder Paris. Eben die Stadt der Liebe. Inzwischen hat mir der Bettler, nachdem ich ihn beherzt fragte, aus seinem Leben erzählt: Er sei, wie er sich ausdrückte, ein „morscher alter Knochen“. Bosnischer Muslim, die Familie von den „Christlichen“ massakriert. Alles schon lange her. Hier sei er freundlich aufgenommen, dann nicht mehr wahrgenommen worden. Das Übliche eben, aber selber schuld, immer selber schuld: Arbeitsloser, Alkoholtrinker (seine schlimmste Sünde, allahu akbar), Almosenmann. Ich prallte innerlich zurück. Es war etwas Grausiges in seinem Sarkasmus, gleich neben der Bäckerei, aus deren Türe die Düfte des Frischgebackenen strömten. Manche Kunden – so der Bettler – würden ihm ein, zwei Stück Gebäck in die Tasche stopfen, als wäre er eine Puppe. Immer wieder müsse er wegbleiben, weil er die „Menschlichkeit“ nicht ertrage … Ich weiß, der Bettler hat auch mich gemeint. Seither meide ich morgens den Gang zum Bäcker. Stattdessen nehme ich ein paar Brötchen aus dem Kühlschrank und backe sie auf. Beim unpersönlichen Hantieren – 60 Grad Backwärme, dazu Umluft – fühle ich mich besser, weniger „menschlich“. Ich weiß jetzt, wie ich meinen Essay über die Barmherzigkeit beenden werde. Mit der Geschichte vom Bettler, der es nicht erträgt, täglich zur Puppe unserer „Menschlichkeit“ zu werden. Wir alle bedürfen des Erbarmens, und so, als solche, sollten wir den Elenden dieser Welt begegnen. Das ist der Sinn von Misericordia.
Der Autor ist Professor für Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz