Kann die Natur ein Vorbild für die Technik sein?#
Hubert Weitensfelder
Dass Tiere und Pflanzen technische Leistungen erbringen, ist unbestritten. Biber errichten Dämme, Vögel bauen Nester, Termiten schaffen bis zu zehn Meter hohe Gebilde. Pflanzen wiederum zeichnen sich vielfach durch Leichtbauweise, Wasserleitung und die Reparatur schadhafter Stellen aus. Mit diesen Errungenschaften der Natur und ihrer Anwendbarkeit für die Technik befasst sich eine eigene Wissenschaftsdisziplin, die „Bionik“. Das Wort setzt sich aus den Begriffen „Biologie“ und „Technik“ zusammen.
Die Bionik vereint Wissenschaftler aus mehreren Disziplinen, aus Biologie, Chemie, Physik und Ingenieurswesen. Das Forschungsgebiet erweckte schon früh das Interesse des Militärs. 1960 sponserte die „Wright Air Wing Development Division“ ein Symposium in Dayton im US-Bundesstaat Ohio, das heute als Ursprung dieser Disziplin gesehen wird. Erforscht wurden unter anderem die Fähigkeiten von Tieren, sich in der Luft, zu Wasser sowie auf dem Land schnell zu bewegen und dabei Informationen zu sammeln und auszuwerten.
Der Vogelflug diente als Vorbild für die Entwicklung von Schwenkflugzeugen, und die Beobachtung von Schwärmen führte zur Erkenntnis, dass Kampfflugzeuge in enger Geschwaderformation viel Treibstoff sparen können. Darüber hinaus lieferte die Körperform von Delphinen und Pinguinen Anregungen für das Design von U-Booten und Torpedos.
Vorläufer der bionischen Forschung wussten ihre Naturstudien schon früh wirtschaftlich zu nutzen: Michael Kelly aus De Kalb (Illinois, USA) ließ sich zum Beispiel von den dornigen Osagesträuchern inspirieren, mit denen die Farmer Viehherden einzäunten; 1868 beantragte er ein Patent zur Erzeugung von Stacheldraht. Der deutsch-böhmische Flugpionier Igo Etrich nahm um 1900 die Samen einer exotischen Kürbisart zum Vorbild für die Flügelform seines Apparats. Raoul Heinrich Francé orientierte sich an der Samenkapsel von Mohnpflanzen, als er sich 1920 die Idee zu einem neuartigen Salzstreuer schützen ließ. Und der Schweizer Erfinder Georges de Mestrel nahm die Kletten, die immer wieder an seinem Hund haften blieben, zum Anlass, 1951 ein Patent auf einen Klettverschluss anzumelden.
Bis heute sind die Techniken des Klebens und Haftens ein wichtiger Forschungsbereich der Bionik; denn in der Natur erfolgen Verbindungen häufig mit klebenden Substanzen, zum Beispiel durch Proteine oder Harze. Insekten und auch größere Tiere wie Geckos setzen klebende und mechanische Techniken ein, um sich an Wänden und Decken, aber auch an glatten Glasscheiben fortzubewegen, wobei sie kleinste Unebenheiten nutzen. Die Erforschung solcher Vorgänge dient als Vorbild für die Fügetechnik; dort gewinnen Klebstoffe zunehmend an Bedeutung und verdrängen das Nieten und Schweißen.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: