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Der Kuss#

Hermann Maurer

Es muss einmal daran erinnert werden, dass der Ausdruck "Kuss" recht jung ist; er geht nämlich zurück auf die Dissertation von Wilhelm Küß (1832, Heidelberg), der für die vorher üblichen Ausdrücke (wie Busserl, Schmatzer, u.a.) erstmals den Überbegriff Küß einführte. Aus diesem Wort entwickelte sich im Deutschen der Kuss:

Der Umlaut "ü" blieb nur im Zeitwort "küssen" und im Plural "Küsse" erhalten, während z.B. im Englischen mit "kiss", "kisses", "kissing" der ursprüngliche Wortlaut bis heute besser überlebte.

Die Thesen in der Dissertation von Küß sind in vielen Punkten anzweifelbar; sie sind aber amüsant genug, dass ich hier kurz auszugsweise über sie berichte (wobei ich Not gedrungen die altertümlichen Formulierungen etwas modernisiere):

Küß definiert einen Kuss so:

"Ein Kuss erfolgt, wenn die Lippen oder Teile des Mundes einer Person einen Teil des Körpers einer anderen Person berühren."

Bevor ich auf das Hauptwerk von Küß, seine Klassifikation der Küsse, eingehe, darf ich die Subtilität, aber auch die Schwächen obiger Definition nicht verschweigen: da in der Definition von zwei verschiedenen Personen die Rede ist, kann man sich z.B. nicht selbst küssen (etwa sich selbst einen Handkuss geben); diesen Aspekt hat Küß also berücksichtigt, genau wie er Küsse zwischen gleichgeschlechtlichen Personen, Zungenküssen, usw. sehr geschickt in seiner Definition subsumiert.

Freilich hat die Definition auch große Schwächen, wie die Hauptkritiker (z.B. Weber 1833, Francisto 1834, Malkter 1836, u.a.) nicht müde wurden aufzuzeigen:

1. Beißt ein Mensch einen anderen, so gilt das (nach Definition) als Kuss, argumentiert z.B. Weber; Küß verneint dies, "weil ein Biss den Tatbestand der Berührung deutlich übersteigt".

2. Francisto wieder meint, dass man vielleicht "das Abschlecken eines Körperteils einer anderen Person mit Küß gerade noch als Kuss bezeichnen kann, das Aussaugen des Giftes bei einem Schlangenbiss aber den Tatbestand Küssen wohl wahrlich nicht mehr erfüllt". Er schlägt daher vor, die Definition durch die Erwähnung von "Zuneigung oder vorgetäuschter Zuneigung" zu erweitern. (Küß hat übrigens dazu nie Stellung bezogen. Er verliebte sich 1833 unsterblich in eine Kollegin und interessierte sich ab da offenbar mehr für die Praxis als die Theorie des Küssens.)

3. Nach der obigen Definition von Kuss ist weder der Kuss eines Tieres oder eines Kleidungsstückes (das z.B. als Handschuh den Körper eines anderen Menschen bedeckt) als Kuss anzusehen; dies wurde in hunderten (!) Veröffentlichungen immer wieder als "Fehler" der Definition angeprangert: ich persönlich finde das aber eigentlich ganz akzeptabel.

Berühmt-berüchtigt wurde Küß durch seine Klassifikation der Küsse, die ich (aus Umfangs- und Jugendschutzgründen) nur sehr verkürzt erläutere:

Zunächst gibt es zwei große Fallunterscheidungen:

1. Küsse zwischen Personen gleichen Geschlechts;

2. Küsse zwischen verschieden geschlechtlichen Personen. Ich beschränke mich hier auf die zweite Kategorie, obwohl es interessant ist, die Differenzen in den beiden Kategorien, die Küß aufzeigt, zu studieren, doch sprengt das den Rahmen dieses Beitrags; aber das Küß den "politischen Kuss" a la russische Politiker (linke Wange - rechte Wange - linke Wange zwischen Parteigenossen) nur in die erste Kategorie gibt, und dort den Handkuss ausschließt, sind zwei typische Beispiele für den Unterschied der beiden Arten.

Nun also zur Kategorie 2, zu den verschieden geschlechtlichen Küssen. Hier unterscheidet Küß zwischen:

2.1 Eigentlicher Kuss (Mund berührt Mund) und

2.2 Uneigentlicher Kuss (Mund berührt anderen Körperteil)

Bei 2.1 (Eigentlicher Kuss) definiert Küß dutzende Unterkategorien und Unter-Unterkategorien (Lippenküssen, Zungenküsse, feuchte und trockene Varianten, unidirektional (der eine Partner will nicht so recht) und bidirektional (beide sind angetan), usw., usw.), sodass man die Dissertation von Küß wohl zu Recht manchmal als die hohe Schule des Küssens genannt hat, ja Lippwig (1889) sogar vom "deutschen Kamasutra" gesprochen hat.

Ich finde die Varianten unter 2.2 (Uneigentlicher Kuss, d.h. der Mund berührt einen anderen Körperteil) besonders amüsant. Die Grobklassifizierung nach Küß ist diese:

2.2. 1: Busserl

2.2.2: Erotische Küsse

2.2.3: Saugen (leicht!)

2.2.4: Beißen (zart!)

2.2.5: Schlecken (nur mit Zunge, lokal begrenzt!), wobei es in jeder Kategorie viele weitere Unterteilungen gibt, die ich nur am Beispiel 2.2.1 (Busserl) näher erläutern will.

Nach Küß unterscheidet man bei 2.2.1 (Busserl) z.B. zwischen:

2.2.1.1: Das Freundschaftsbusserl (mit geschlossenen Lippen; und man höre und staune! - auch hier gibt es unerhört viele verschiedene Fälle wie "einwangig", "zweiwangig", "drei- oder mehrwangig" (in Finnland wird zwischen dem 20.12. und 25.2. ein Freundschaftsbusserl 3 Mal auf jede Wangenseite platziert; zumindest galt das zu den Zeiten von Küß, "stirnig", usw.)

2.2.1.2: Der Schmatz (charakterisiert durch Feuchtigkeit und Geräuscherregung) ... ich erspare Ihnen die Details.

2.2.1.3: Das erotisierende Busserl (in diese Kategorie reiht Küß z.B. ein: den Handkuss (von Gegnern Küß' wird dieser eher dem Bereich "Höflichkeitsbusserl" zugeordnet), den Kuss auf die Schulter oder das "flüchtige Busserl" auf z.B. Oberarm oder Kleidausschnitt!).

Interessant ist, dass nach der Definition von Küß ein "gehauchtes Busserl" nicht existiert (ein oft erwähnter Angriffspunkt auf seine Thesen!), dass er aber relativ künstlich auch Begriffe wie "Nebenbei-Busserl", "Begeisterungs-Busserl", "Extase-Busserl", usw. einführt.

Die Kategorisierung von Küß wurde von Psychologen immer wieder auch aus anderen Gründen angegriffen:

1. Küß berücksichtigt nicht, dass die Kussart situationsabhängig ist: "Ein feuchter Kuss nach dem Schwimmen im Meer darf doch nicht gleichgestellt werden mit einem feuchten Kuss in der Wüste", meint Vorwinkler (1913) sehr bildhaft; er setzt fort: "Auch der Bekleidungszustand des Kussadressanten muss berücksichtigt werden: ein Kuss auf die Nasenspitze ist sicher weniger spezifisch als "Nasenbusserl" einzustufen, wenn dies die einzige, zur Zeit unbedeckte Körperstelle des Partners ist".

2. Vor allem wird Küß vorgeworfen, dass er "Fließübergänge" (wenn z.B. ein Lippenkuss in einen Zungenkuss übergeht) überhaupt nicht berücksichtigt.

3. Schließlich wird angemerkt, dass Küß das Zeitelement nicht berücksichtigt; z.B. versucht Abermacher (1922) abzuschätzen, ob ein "3-minütiger Lippenkuss als intensiver einzuschätzen ist als ein flüchtiger Zungenkuss oder umgekehrt" und schlägt vor, dass Küsse, die länger als 12 Minuten dauern, nicht mehr als solche zu bezeichnen sind. (Woher die 12 Minuten kommen, konnte ich nicht feststellen; man beachte aber, dass nach diesem Vorschlag die Weltrekordversuche im Dauerküssen (Guiness Book of Worldrecords) hinfällig werden!).

Küß hat mit seiner Dissertation die eigentümlichsten Diskussionen ausgelöst. So wurde z.B. untersucht, ob zwischen Küssen und Polstern (ja, Sie lesen richtig!) ein Zusammenhang besteht: schließlich klingt das englische Wort "kissing" (küssen) sehr ähnlich wie das deutsche Wort "Kissen" (= Polster), und umgekehrt klingt die englische Übersetzung von Kissen, nämlich "cushion" ähnlich wie "Kuss" - eine eigentümliche Symmetrie, über die immerhin mindest drei sprachwissenschaftliche Dissertationen geschrieben wurden!

Eines steht fest: das Thema Kuss gibt offenbar theoretisch einiges her. Persönlich ziehe ich aber gegebenenfalls die anwendungsnähere Forschung vor.

Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe


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