Tabuisierung von Körperfunktionen#
Die Senatoren im antiken Rom vereinbarten häufig wichtige Besprechungen in den öffentlichen Latrinen: ein entspanntes Gespräch während einer entspannenden "Verdauungssitzung" gehörte zum normalen Tagesablauf und war dem sozialen Klima genauso förderlich wie dem Darm; in manchen "Plumpsklos" auf unseren Almen findet man als Überbleibsel anstelle der isolierenden Einlochanordnung die Geselligkeit fördernde Mehrlochkonstruktion.
Auch ein Schuss Pragmatik mag da dabei gewesen sein: schließlich ist das Freischaufeln des Weges in einer Winternacht eine typische Teamarbeit: einer leuchtet, zwei schaufeln. Früher waren das Schlürfen und Schmatzen beim Essen üblich und ein Kompliment an die Kochkunst.
Auch das lutherische Zitat "Warum rülpselt und pfurzet ihr nicht, oder hat es Euch nicht geschmacket?", zeigt den Wandel in der Einstellung zu vielen Körperfunktionen; und ihre zunehmende Tabuisierung.
Ich erinnere mich noch an Schilder in den Amtsräumen von Behörden "Bitte nicht auf den Boden spucken!" und man bot Spucknäpfe als Alternativen an. Heute sind nicht nur die Schilder, sondern auch die Näpfe verschwunden.
In einem alten Englischbuch fand ich den Limerick:
There was a young fellow of Ealing
devoid of all delicate feeling
when he read on the door
"please don't spit on the floor"
he immediately spat on the ceiling"
Fast unverständlich klingt dieser Limerick heute: das Ausspucken ist innerhalb von zwei Generation als Gewohnheit (als Problem?) verschwunden.
In einem Roman aus dem letzten Jahrhundert, der in den "steirischen Eisenwurzen" spielt, wird von einem schwer arbeitenden Familienvater berichtet, der nach einem gefährlichen Einsatz nach Hause kommt:
"Als sich der starke, vertraute Schweißgeruch des Mannes in der Wohnstube ausbreitete, entspannten sich die Kinder und Maria: der Vater war wohlbehalten daheim." Damals durften die Menschen noch riechen, war der Geruch eine vertraute und eine persönliche Note! Heute haben uns Seifen und Deo Industrie eingeredet, dass wir gefälligst geruchlos zu sein haben, oder bestenfalls einen der gerade anerkannten Modedüfte ausströmen dürfen!
So sehr ein Mindestmaß an Hygiene sinnvoll sein mag, ist die weit gehende Tabuisierung aller menschlichen Ausscheidungsfunktionen schon deshalb zweifelhaft, als sie ein Symptom für eine Entwicklung ist, die den Menschen immer mehr zu einer perfekten, sterilen, unmenschlichen Maschine machen will.
Wir tabuisieren ja nicht nur so natürliche Körperfunktionen wie Ausscheidungsvorgänge; wir verdrängen den menschlichsten Vorgang von allen, das Sterben; wir erlauben das Geschrei von Kindern in Wohnungen nur mehr bis zu einer gewissen Lautstärke, auch wenn draußen ein Überschalljäger viel lauter vorbeidonnert; wir sind verzweifelt, wenn Kinder miteinander raufen, als wäre dies nicht ein grundnatürlicher Vorgang; als in einem voll besetzten Zugabteil sich unlängst ein junges Liebespaar etwas intensiver küsste, gerieten die Mitpassagiere in Aufruhr wegen des "unmöglichen Benehmens", usw., usw.
Sind wir vielleicht im Begriff, auch die Nahrungsaufnahme immer mehr zu tabuisieren?
Wir verstecken unseren Mund, wenn wir (wohlerzogen) gähnen, einen Zahnstocher benutzen oder den Kirschkern unseres Kirschkuchens auf die Gabel befördern (wer kann's perfekt?).
Das Essen eines kleinen Imbisses auf der Straße gilt (zunehmend) als "unfein", wenn man nicht in unmittelbarer Nähe eines Würstel- oder Maronistandes ist; die Beleuchtung in "guten" Restaurants ist so schwach (eine aus den USA importierte Unsitte), dass man das Gegenüber kaum mehr sieht; in Motels in Australien wird das Frühstück durch ein kleines, zweites Türchen ins Zimmer geschoben, damit man es dann unbeobachtet von anderen verzehren kann; in "Fast Food" Restaurants sitzt man immer häufiger (wenn man alleine ist/isst) mit dem Gesicht zur Wand; der Mikrowellenherd hat die Synchronisation des Familienessens endgültig durchbrochen, sodass mehr und mehr als Partner beim Essen das Fernsehen oder eine Zeitung einspringt.
Vor mir sehe ich diese Vision: eine Gruppe von Freunden sitzt am Abend zusammen. Einer entschuldigt sich plötzlich möglichst unauffällig; er muss nicht aufs WC, sondern er ist hungrig. Er verschwindet kurz in einer kleinen Esszelle, wo er seine drängenden (Ess)Bedürfnisse befriedigt. Wenn er zurückkehrt, wird über seine Aktivität nicht gesprochen: das wäre sehr ungehörig.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.