Abschied von der Gstettn#
Die vielen Gesichter der Wiener Aspanggründe: einst Endpunkt des Wiener Neustädter Kanals, in der NS-Zeit Bahnhof zum Tode, wird das großflächige Areal nun dicht verbaut.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 24. April 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Johann Werfring
Die Aspanggründe in Wien-Landstraße: seit Jahrzehnten liegt das abschüssige Gelände bereits brach. Längst hat sich die ungezähmte Natur das ausgreifende Terrain zurückerobert. Gräser, Disteln, Blumen und Sträucher prägen heute das Bild. Viele Hunde durchstreiften in den vergangenen Jahren gemeinsam mit ihren Herrln und Frauerln den verwachsenen Landstrich und verwandelten ihn in ein gigantisches Hundeklo.
Da und dort gibt es wilde Mistplätze. Verstreut herumliegende Haushaltsgeräte und allerlei grauslicher Unrat haben längst dafür gesorgt, dass die Aspanggründe im Sprachgebrauch der Wiener als „Gstettn“ bezeichnet werden. Zwischen der Adolf-Blamauer-Gasse und der Aspangstraße gibt es einen versteckten Weg, der von Fußgängern und Radfahrern gerne als „Abschneider“ benützt wird. Wenn man mit dem Drahtesel allerdings allzu schnell bergab unterwegs ist, muss man aufpassen, dass man nicht aus der Misthalde herauskriechende Ratten überrollt.
Kommt "Eurogate"?#
Doch schon bald wird die Gstettn weder den Hunden noch den Ratten gehören. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre sind Planungen im Gange, das weitläufige Areal zu bebauen. 2001 legte der britische Stararchitekt Lord Norman Foster einen Masterplan für die Gestaltung der Aspanggründe vor. Dieser sah unter anderem am östlichen Ende des Areals zwei ovale Türme vor, weshalb das Projekt den Namen „Eurogate“ (Europäisches Tor) erhielt. Im Zuge der langwierigen Projektierungen ist der Name indes obsolet geworden, weil sich nach der EU-Osterweiterung 2004 die Grenzen der Europäischen Union verschoben haben.
Im Umfeld einzelner an Eurogate beteiligter Bauträger wird nun angeblich eine Namensänderung diskutiert, jedoch sei eine Modifizierung der schon seit einiger Zeit eingeführten Bezeichnung schwierig, weil ganz einfach zu viele Firmen an dem Projekt beteiligt sind. Wie aus dem Büro des Wiener Wohnbaustadtrats Michael Ludwig zu erfahren war, sei es derzeit offen, ob die beiden im Masterplan projektierten Türme überhaupt gebaut werden. Auch sei der Name Eurogate "keineswegs in Stein gemeißelt", denkbar wäre auch eine andere Bezeichnung, etwa mit konkretem Wien-Bezug.
Seit kurzem wachsen in einigen Bereichen der Aspanggründe die ersten Bauten empor. Am westlichen Rand des Areals hingegen sind derzeit mehrere große Gruben zu sehen, wo die Wiener Stadtarchäologie vor der endgültigen Verbauung die Spuren der Vergangenheit dokumentieren und erforschen möchte. Vor allem werden die in diesem Bereich vorhandenen Reste des Hafenbeckens des Wiener Neustädter Kanals sowie des Aspangbahnhofs untersucht. Daneben gilt das Interesse der Forscher Relikten aus der Römerzeit.
An den Wiener Neustädter Kanal erinnert bis heute die kleine Hafengasse, die von der Klimschgasse über den Rennweg zur Aspangstraße führt. Initiiert wurde der Kanal gegen Ende des 18. Jahrhunderts, um den Verkehr von Gütern in die Kaiserliche Residenzstadt rationeller zu machen. Insbesondere die dringend nötige Versorgung Wiens mit Kohle und Holz veranlasste Kaiser Franz II., das Kanalprojekt zu fördern. Um es voranzubringen, ernannte der Monarch den Ingenieur-Oberstlieutenant Sebastian von Maillard zum "Director der hydraulischen Unternehmung" und entsandte ihn auf eine Studienreise nach England, wo das Kanalwesen damals bereits jahrzehntelang zum Nutzen des Gemeinwohls florierte. Um möglichst günstig bauen zu können, forcierte Maillard einen schmalen "ökonomischen Kanal", der laut ursprünglichem Konzept von Wien bis Triest führen sollte. Trassenführungen, bei denen eine Untertunnelung erforderlich war, wollte er aufgrund negativer Erfahrungen in England vermeiden. Über eine Testfahrt mit einem Kanalschiff durch einen engen englischen Tunnel berichtet Maillard: "Die Luft strich so feucht und so scharf durch den Stollen, dass wir glaubten Hals und Ohren zu verlieren. Am Ende dieser Fahrt schätzen wir uns glücklich, einen solchen Versuch nicht auf dem anderen (längeren) Stollen angestellt zu haben, da wir bey einer längeren Fahrt die Gesundheit eingebüßt hätten." Der Bau des ersten Teilstücks des Kanals von Wien bis Wiener Neustadt, bei dem zuweilen über 1200 Militär- und Zivilarbeiter, aber auch Sträflinge (zum Teil sogar in Ketten) eingesetzt wurden, dauerte von 1797 bis 1803. Im Jahr 1799 wurde Maillard als Bauleiter entlassen und von seinem Mitarbeiter Josef Schemerl abgelöst. In gewissen Streckenabschnitten gab es immer wieder Schwierigkeiten wegen Versickerung. In Ermangelung schwerer Baumaschinen, wie man sie heute verwendet, löste Schemerl das Problem durch die Einbringung eines Kiesel-Erde-Gemischs, welches durch den Beritt mit Pferden verfestigt wurde.
Särge im Kanalwasser#
In manchen Bereichen bereiteten Dichtungsmängel erhebliche Schwierigkeiten. Wie überliefert, kam es immer wieder vor, dass Wasser aus dem Kanal in Keller eindrang, Brunnen verseuchte und Felder versumpfte. In der Gruft des Franziskanerklosters von Maria Lanzendorf sollen sogar Särge im Kanalwasser geschwommen sein.
Nach der Überwindung solcher Kalamitäten konnte schließlich am 12. und 13. Mai 1803 unter dem Jubel der Bevölkerung die Eröffnungsfahrt auf dem von der Leitha gespeisten „Schiffbaren Wiener Canal“ stattfinden. In Anlehnung an britische Verhältnisse benutzte man schmale und zugleich lange Kanalschiffe (22,8 Meter lang und 2,05 Meter breit), die in Wiener Neustadt und Passau gebaut wurden. Das von einem Steuermann gelenkte Schiff musste auf dem parallel zum Kanal verlaufenden Treppelweg von einem Pferd gezogen werden, welches von einem Pferdeknecht geführt wurde. Wegen der mäßigen Strömung war in beiden Richtungen Pferdevorspann vonnöten. Die Stecke zwischen Wien und Wiener Neustadt wurde von den gezogenen Kanalschiffen in eineinhalb Tagen bewältigt.
Während zwei Pferde mit einem Fuhrwerk auf der Straße lediglich zwei Tonnen transportieren konnten, war es mit solchen Kanalschiffen möglich, bei Vorspann eines einzigen Pferdes bis zu 30 Tonnen zu bewegen. Dennoch gelang es zunächst nicht, den staatlich geführten Kanal gewinnträchtig zu bewirtschaften. Erst als zwischen 1822 und 1871 der Kanal an Pächter vergeben wurde, sollte sich dies ändern. Die geplante Weiterführung über Ungarn Richtung Süden scheiterte am Widerstand der magyarischen Magnaten, weshalb der zuvor "Schiffbarere Wiener Canal", "K.k. Wiener Canal" und "K.k. Franzens-Canal" genannte Wasserlauf schließlich nach seinem Endpunkt den Namen "Wiener Neustädter Kanal" erhielt. Transportiert wurden auf den Kanalschiffen vor allem Holz und Ziegel in Richtung Wien. In der Gegenrichtung transportierte man auch Wein, Salz, Zucker und Granit.
In Wien prägte der Kanal in mannigfaltiger Weise das Stadtbild. Augenfällig waren nicht nur der Kanalverlauf und die erforderlichen Brücken, sondern auch der ansehnliche Hafen, der sich ursprünglich im Bereich rund um die heutige U4-Station „Wien Mitte“ befand. Als 1848 das Hafen-areal zur Errichtung einer Verbindungsbahn zwischen den Wiener Bahnhöfen benötigt wurde, erfolgte die Verlegung des Hafens in den Bereich der heutigen Aspanggründe. Obwohl die Kanalbewirtschaftung noch eine Zeit lang erfolgreich fortgesetzt wurde, lief die aufkommende Eisenbahn dem Kanal immer mehr den Rang ab, bis schließlich auch der zweite Wiener Kanalhafen 1879 zugeschüttet und – bezeichnenderweise – mit einem Bahnhof, dem Aspangbahnhof, überbaut wurde. Traurige Berühmtheit erlangte dieser Bahnhof durch die Tatsache, dass während der NS-Herrschaft zehntausende österreichische Juden von dort in diverse Vernichtungslager abtransportiert wurden.
Neue Gedenkstätte#
Der kleine, am östlichen Rand der Aspanggründe befindliche „Platz der Opfer der Deportation“ sowie eine in diesem Bereich errichtete Gedenktafel erinnern daran. Im Zuge der Bebauung der Aspanggründe ist auch eine neue Gedenkstätte geplant. „Die Gedenkstätte soll im unmittelbaren Umfeld einer neuen Schule zur Erinnerung an die in der NS-Zeit Deportierten und Verfolgten errichtet werden. Das Mahnmal soll in dem dieser Schule nächstgelegenen Teil der zentralen Grünfläche situiert werden“, teilt das Büro von Wohnbaustadtrat Ludwig dazu mit.
Bei dem nun teilweise ausgegrabenen Hafenbecken des Wiener Neustädter Kanals hat die Wiener Stadtarchäologie unter anderem ein schönes Pflaster aus dem einstigen Verladebereich freigelegt. Um der Wiener Kanal-ära ein nachhaltiges Andenken zu sichern, wünschen sich die Forscher, dass dieses Pflaster im neuen Verbauungsgebiet erhalten bleiben möge. Vom Wiener Neustädter Kanal sind heute noch 36 der ursprünglich 63 Kilometer langen Strecke erhalten. Sieben Kleinkraftwerke am Kanal speisen Strom in das Netz der Wiener Stadtwerke ein. Der idyllische Treppelweg wird von Radfahrern, Wanderern und sonstigen Erholungssuchenden genützt. Gemeinsam mit etlichen aufgelassenen Betrieben an der Strecke, die das Kanalwasser einst zur Energiegewinnung nutzten, darf auch der Kanal selbst als ein reizvolles Industriedenkmal betrachtet werden.
Fritz Lange: Von Wien zur Adria. Der Wiener Neustädter Kanal. Sutton Verlag, Erfurt 2003.
Johann Werfring, geboren 1962 im Burgenland, Historiker mit den Schwerpunkten Wiener Stadtgeschichte und Medizingeschichte, langjähriger Kolumnist bei der „Wiener Zeitung“.