Der österreichische Lawrence#
Theologe, Abenteurer, Diplomat: Zum 150. Geburtstag von Alois Musil, der als Nahost-Reisender viel zum Verständnis der arabischen Welt beitrug.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 26. Juni 2018
Von
Christian Hütterer
1962 räumte der Film "Lawrence von Arabien" bei der Vergabe der Oscars ab, er konnte gleich sieben der begehrten Trophäen gewinnen. Peter O’Toole verkörperte darin den britischen Soldaten Thomas Edward Lawrence, der im Ersten Weltkrieg die Stämme Arabiens zum Aufstand gegen die osmanische Herrschaft aufgestachelt hatte, und machte ihn damit einem breiten Publikum bekannt.
Nur wenige wissen aber, dass Lawrence einen österreichischen Widersacher hatte: Alois Musil. Der gebürtige Mährer war eine facettenreiche Persönlichkeit, sprach verschiedene arabische Dialekte, lebte lange Zeit mit Beduinen und fühlte sich in der Wüste zu Hause. Er war aber nicht nur ein verwegener Abenteurer, sondern auch einer der führenden Orientalisten seiner Zeit.
Diese Karriere war Musil aber nicht in die Wiege gelegt worden. Er wurde am 30. Juni 1868 in der kleinen Ortschaft Richtersdorf, dem heutigen Rychtářov, als ältester Sohn einer Bauernfamilie geboren. Musil sollte nicht der einzige Prominente in der Familie bleiben, sein zwölf Jahre später geborener Großcousin Robert wurde als Schriftsteller berühmt.
Dank der Unterstützung des Erzbischofes von Olmütz konnte Alois Matura machen und Theologie studieren. Während des Stu-diums entdeckte er seine Leidenschaft für die Kulturen und Sprachen des Orients, lernte Hebräisch, Arabisch und Türkisch. Bis zur ersehnten Reise nach Palästina musste Musil aber noch viel Geduld aufbringen, denn nach seiner Weihe zum Priester wurde er vier Jahre lang als Religionslehrer nach Mährisch-Ostrau geschickt.
Erste Orient-Reise
Dann war es endlich soweit: Mit 27 Jahren konnte Musil nach Jerusalem reisen. Dort platzte allerdings sein Traum vom exotischen Leben im Orient: Die Souvenirverkäufer in Jerusalem fand er abstoßend und die französischen Dominikaner, bei denen er studieren wollte, beeindruckten ihn nicht durch ihr Wissen, sondern nur durch ihre Arroganz. Und doch entdeckte er während seines Aufenthaltes in Palästina etwas, das ihn beeindruckte: die Wüste. In Jerusalem hörte Musil zum ersten Mal Legenden von Wüstenschlössern, die vor langer Zeit von Kalifen gebaut worden waren, dann aber aufgegeben wurden. Der junge Forscher fing Feuer, er wollte der Erste sein, der diese Paläste wiederentdeckt.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Wien kehrte Musil in den Orient zurück, schloss sich dort einem Beduinenstamm an und gelangte auf einem Umweg zu seinem Ziel. Er verarztete Beduinen, die auf einem Raubzug verletzt worden waren, und als Belohnung führte man ihn zu den Ruinen des Schlosses Kasr Amra. Musil sah dort beeindruckende Wandmalereien und filigrane Steinmetzarbeiten, berichtete er aufgeregt nach Wien.
Die Reaktion war aber enttäuschend, denn an der Akademie der Wissenschaften wollte man ihm nicht glauben, ein sagenhaftes Schloss gefunden zu haben. Musil war über die fehlende Anerkennung enttäuscht, seine Expeditionen konnten nur unter größten Entbehrungen und vielen Gefahren stattfinden: "Ich betrat Gebiete; welche noch von keinem Europäer besucht wurden. Die Stämme sind fanatisch mißtrauisch und hindern mich immer und überall." Mehrmals wurde er überfallen, Lebensmittel, Kleider, aber auch die Ergebnisse seiner Forschungen wurden ihm geraubt.
Akademische Karriere
Enttäuscht kehrte Musil nach Olmütz zurück, unterrichtete an einem Gymnasium, träumte aber von einer Rückkehr in die Wüste. Seiner Beharrlichkeit war es zu verdanken, dass er als Lehrer karenziert wurde und ein Stipendium erhielt, mit dem er wieder in den Orient aufbrechen konnte.
Diesmal brachte er von der Reise detaillierte Beschreibungen seiner Funde mit, publizierte seine Forschungen - und wurde dadurch mit einem Schlag zu einem der führenden Orientforscher seiner Zeit. Diese Anerkennung ermöglichte ihm weitere Reisen in den Nahen Osten und eine akademische Karriere. Musil hatte auch ein großes Talent, um - wie man heute wohl sagen würde - Drittmittel zu akquirieren: Er überzeugte österreichische Firmen, ihn mit Sachspenden zu unterstützen.
Im Juni 1908 reiste er zu einer neuen Expedition ab und hatte dermaßen viel Gepäck, dass er von drei Fuhrwerken begleitet wurde. Darin fanden sich Gewehre und Ferngläser, aber auch alltägliche Dinge wie Seifen und sogar Suppenwürfel, die als Gastgeschenke dienen und die Beduinen Nordarabiens gewogen stimmen sollten. Es war eine gute Investi-tion, denn Musil konnte damit den Schutz des bedeutendsten Fürsten der syrischen Wüste gewinnen. In den folgenden Monaten zog Musil mit den Beduinen zwischen Damaskus und dem Euphrat umher, kartographierte die Wüste und erforschte das Leben seiner Gastgeber.
Es folgten Jahre, in denen Musil zwischen Österreich-Ungarn und dem Orient pendelte. Er unterrichtete zuerst an der Universität in Olmütz, 1904 wurde er ordentlicher Professor für das Alte Testament und orientalische Dialekte in Wien, dazwischen reiste er immer wieder in den Nahen Osten. Musil hatte sich im Laufe der Zeit auch international viel Anerkennung erworben, so wurde er etwa vom britischen Außenminister beauftragt, den Grenzverlauf zwischen Ägypten und dem Osmanischen Reich festzulegen.
Seine Vorschläge wurden von beiden Staaten angenommen und blieben größtenteils bis heute gültig. Musil gewann auch an politischem Einfluss und hatte Zugang zu allerhöchsten Kreisen. So kam es, dass er 1912 in ungewöhnlicher Begleitung durch die Wüste reiste: Sixtus von Bourbon-Parma, der Bruder der Kaiserin Zita, durchquerte mit ihm Nordostarabien, und gemeinsam besuchten sie die Ruinen der antiken Oasenstadt Palmyra.
Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur in Musils Leben, denn aus dem Forscher wurde ein Reisender mit politischem Auftrag. Großbritannien erkannte die Bedeutung der arabischen Halbinsel und versuchte, durch Thomas Lawrence die dort lebenden Beduinen zu einem Aufstand gegen das Osmanische Reich aufzuwiegeln. Musil wurde in geheimer Mission in die Wüste geschickt, um mit seiner Reputation, die er sich bei den arabischen Stämmen erworben hatte, die britischen Pläne zu vereiteln.
Es gelang ihm zwar, die zerstrittenen Stämme zu versöhnen, und der österreichisch-ungarische Konsul in Damaskus konnte voller Freude und Stolz nach Wien berichten: "Musil ist ein historischer Friedensschluss unter den arabischen Stämmen gelungen, der für die kommende Entwicklung Saudi-Arabiens nicht hoch genug eingeschätzt werden kann." Das eigentliche Ziel seiner Reise erreichte er jedoch nicht, die Beduinen folgten nämlich Lawrence und den britischen Angeboten und griffen die osmanische Festung Akaba am Roten Meer an.
Musil fand für seinen Gegenspieler nur wenig freundliche Worte: "Lawrence setzte niemals einen Fuß in das eigentliche Arabien. Arabisch erlernte er nie richtig." Dennoch zollte er seinem Gegenspieler in einem Bereich neidvoll und wohl mit ein wenig Eifersucht Anerkennung, denn Musil attestierte Lawrence eine "einmalige Gabe" bei der Selbstvermarktung. Lawrence gelang mit dem Buch "Die sieben Säulen der Weisheit", in dem er seine Abenteuer in Arabien beschreibt, ein Bestseller, Musils Ruhm hingegen blieb zeit seines Lebens auf Fachkreise beschränkt.
1917 reiste Musil zum letzten Mal in den Orient. Es war ein pompöser Abschied - und zugleich eine heikle Mission, denn sie richtete sich gegen den Verbündeten Deutschland: Mit dem Besuch sollte nämlich der wachsende deutsche Einfluss im Osmanischen Reich begrenzt und die besondere Rolle Österreich-Ungarns im Nahen Osten gesichert werden. Die österreichische Delegation wurde von Erzherzog Hubert Salvator geleitet.
Der 23 Jahre alte Habsburger erweckte im ganzen Land mit seinem "bescheidenen, liebenswürdigen Auftreten" viele Sympathien und aus Haifa wurde etwa gemeldet, dass die "Leutseligkeit Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit den besten Eindruck hinterließ". Weit weniger erfreulich verlief ein Besuch der Front in Palästina, denn die osmanischen sowie die zu ihrer Unterstützung geschickten österreichischen und deutschen Truppen waren nach drei Jahren Krieg in der Wüste dem Ende nahe.
Umzug nach Prag
Zehn Tage, nachdem die österreichische Mission Palästina verlassen hatte, begann eine britische Offensive - und den Soldaten der Mittelmächte blieb nur mehr der Rückzug. Ein Jahr später war der Krieg zu Ende und im Nahen Osten wurden nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches von Großbritannien und Frankreich neue Grenzen gezogen.
Das Ende der Doppelmonarchie bedeutete auch eine Zäsur im privaten Leben Musils. Staatsbedienstete in der jungen Republik Österreich mussten der "deutschen Nation" angehören, und Musil wurde von den Behörden aufgefordert, seine nationale Zugehörigkeit zu beweisen, um seine Professur behalten zu können. Musil spielte dabei aber nicht mit. Er, der seine bahnbrechenden Werke auf Deutsch veröffentlicht hatte, verwies in seiner Antwort an die Behörden auf seine langjährige Tätigkeit an der Universität Wien und auf seine Verdienste für die Monarchie, bat zugleich aber um seine Enthebung. Musil nahm die Staatsbürgerschaft der jungen Tschechoslowakei an und zog nach Prag, wo er eine Professur für orientalische Studien und Arabisch erhielt. Mit mehreren Reisen in die Vereinigten Staaten versuchte er, seine Forschungen auch dort bekannt zu machen.
Musil verfasste zwar weiterhin wissenschaftliche Beiträge, zog sich aber immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück und starb schließlich 1944. Anders als sein Gegenspieler Lawrence wurde Musil nicht zur legendären Figur, über die später Filme gedreht werden sollten. Lawrence schuf mit seinen Erinnerungen ein literarisch anspruchsvolles Werk, das sich weltweit verkaufte. Musils Veröffentlichungen waren wissenschaftlich nüchtern und erschienen auf Deutsch, englische Übersetzungen wurden erst publiziert, als seine Entdeckungen nur mehr geringen Neuigkeitswert hatten. So blieb Musil, der viel zur Erforschung der Wüste beigetragen hat, trotz seiner zahlreichen Verdienste stets im Schatten seines britischen Widersachers.
Information Christian Hütterer, geboren 1974, Studium von Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, lebt und arbeitet in Brüssel.