Das Virus ist schuldig#
Das sowjetische Gerichtstheater der 1920er Jahre führte Prozesse gegen Mikroben.#
Von der Wiener Zeitung (14. Mai 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Edwin Baumgartner
Zum Schluss hat der Verteidiger noch alle Register gezogen und die besondere Natur des Angeklagten ins Treffen geführt und die Selbstverantwortung jedes Einzelnen. Als dann aber der Staatsanwalt die besondere Heimtücke des Angeklagten bei Ansteckung und Krankheitsverlauf ins Treffen führte, war der Prozessausgang klar: Das Coronavirus wurde samt seinen Verwandten zum Tod durch Einseifen verurteilt.
So hätte es ablaufen können, hätte das Virus in den 1920er Jahren die noch junge Sowjetunion heimgesucht. Die Kochbakterie kann ein Lied davon singen. Sie hat es erlebt: Im Jahr 1924 sprach das Sansud (Hygienegericht) das Todesurteil wegen der Ermordung mehrerer Millionen Menschen, darunter auch „Kinder des Proletariats der UdSSR“, durch Tuberkulose aus.
„Gericht über die Kochbakterie“ hieß das Stück von Konstantin Lapin, an das unlängst das Schweizer Online-Magazin „Geschichte der Gegenwart“ erinnerte. „Ach so, nur ein Theaterstück“, möchte man fast etwas enttäuscht aufstöhnen. Doch die Gerichtsstücke der frühen Sowjetunion waren mehr: Sie waren Erziehungstheater.
Die Didaktik der Gerichtsshows#
Man kann sich das ansatzweise so vorstellen wie die Gerichtsshows, etwa „Familiengericht“ oder „Strafgericht“, die unter anderem RTL ab Beginn der 2000er Jahre ausstrahlte. Deren didaktische Funktion (Straftäter können sich bessern, Muslime sollen sich assimilieren, Jugendämter lösen die meisten Probleme, bei Beziehungsproblemen ist meistens der Mann schuld) übten die sowjetischen Theatergerichtsstücke keineswegs in vergleichbarer Dezenz aus. Im Gegenteil: Das Gerichtstheater war eine vielleicht auch unterhaltsame, jedenfalls aber knallharte Lehrstunde über die Verhaltensweisen, die dem Sowjetbürger unangemessen waren. Dementsprechend hatten sich vor dem Theater-Gericht Prostituierte und Alkoholiker zu verantworten, Wunderheilerinnen und Bauern, die nicht an den Segen der Agrarreformen glaubten. Und stets stand die Drohung im Raum, das Theatergericht könnte sich bei entsprechenden Vergehen nur allzu schnell in ein echtes Gericht und das Theater-Urteil in ein real exekutiertes Urteil verwandeln.
Auch Krankheitserreger, Flur- und Feld-Schädlinge wurden vor Gericht zitiert – und schließlich sogar Gott selbst. Da ihn das Gericht an der Adresse Himmel nicht antraf, sprach es seine Stellvertreter, also Popen, Rabbiner und Mullahs, mitschuldig.
Wie realistisch dieses Prozesstheater war, erlebte der deutsche Philosoph Walter Benjamin 1926 in Moskau: Zufällig kam er zu einem Prozess gegen eine Kurpfuscherin und war sich anfangs nicht sicher, ob es sich um einen echten oder einen fiktiven Prozess handelte.
Dementsprechend dauerte es nur bis zum Ende der 1920er Jahre, dass die Angeklagten, die bis dahin Laienschauspieler gewesen waren, durch echte Delinquenten, zumeist Alkoholiker, ersetzt und im Rahmen des Stücks real verurteilt wurden.
Natürlich hatte auch der Prozess gegen die Kochbakterie belehrende Absicht: So wimmert die Bakterie, dass Hygienemaßnahmen ihre Lebensqualität beeinträchtigen, und gibt Auskunft über ihren Geburtsort („in der Spucke eines Arbeiters“), ihren Wohnort („in Körpern oder in dunklen, stickigen Räumen“) und die Ansteckung („durch Ausspucken auf den Boden“). Die als Zeugen aufgerufenen Krankenschwestern preisen das sowjetische Gesundheitssystem und erklären, wie man mit Selbstverantwortung der Mikrobe beikommt: keine Ikonen küssen, Hände waschen.
In den Tagen der Corona-Krise braucht man eigentlich nur noch die die Aussage des Babyelefanten über Abstände und Mund-Nasen-Schutz hinzuzufügen, und das Virus ist chancenlos vor Gericht. „Ganz einfach“, wie es ein blondes Mädchen im ORF verkündet. Es könnte die perfekte Anklägerin des Coronavirus sein.