Nachtschwärmer im Untergrund#
An diesem Wochenende beginnt in Wien der Nachtverkehr der U-Bahn – aus diesem Anlass ein Blick nach Berlin, wo die U-Bahn schon seit 1990 an Wochenendnächten verkehrt#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 4. September 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Günther Luxbacher
Die Wiener und Wienerinnen haben sich in der letzten Volksabstimmung mit knapp 54 Prozent für den Betrieb aller fünf U-Bahnlinien in den Wochenendnächten und vor den Feiertagen entschieden. Seit der Nacht vom 3. auf den 4. September werden alle Linien im 15-Minuten-Takt bedient. Damit gesellt sich Wien zu den anderen Städten mit nächtlichem Schnellbetrieb wie Berlin, Hamburg, Stockholm und Barcelona. Die Donaumetropole überrundet Paris und sogar London. Nur die New Yorker U-Bahn glänzt mit ihrem siebentägigen 24-Stunden-Dauerbetrieb. Ist sie ein Vorbild für Europa? Die Soziologen Matthias Eberling und Dietrich Henckel verglichen 2002 in ihrer Studie "Alles zu jeder Zeit" die Zeitregimes in Berlin, Frankfurt/Main und Wien. Darin untersuchten sie die verschiedenen Stadttypen in Hinblick auf Motive und Argumente der zeitlichen Ausdehnung alltäglicher Aktivitäten. Kultivierte Berlin bereits im späten Kaiserreich sein Image als schnelllebige nächtliche Metropole, nutzte Wien seinen Ruf als gemütliche Stadt des Walzers und der (viel zu früh schließenden) Heurigenlokale. Das änderte sich in den frühen achtziger Jahren, als Wiens Nachtleben einen gewaltigen Schub erfuhr. Damals ging man vor allem in der Innenstadt aus. Trotzdem musste man als Vorstadt-Bewohner schon während eines halbstündigen Fußmarsches nach Hause mit der Ausnüchterung beginnen.
Urbane Zeit#
Urbane Modernisierung bedeutet auch, so Eberling/ Henckel, dass die Nacht tendenziell zum Tag gemacht wird. Der grundsätzliche Mechanismus, der sich in allen größeren europäischen Städten zeigt, scheint eine Verschiebungs-Kettenreaktion zu sein. Möglicherweise nahm diese bei den späteren Arbeitsbeginn-Zeiten der achtziger Jahre ihren Ausgang. Dadurch kamen die unselbständig Beschäftigten nach Dienstschluss zunehmend mit den traditionellen Ladenöffnungszeiten in Konflikt. Um die Umsätze nicht sinken zu lassen, wurden die Öffnungszeiten verlängert. Gleichzeitig stieg im Zuge der Neoliberalisierung der Anteil "atypischer" Beschäftigungsverhältnisse der Kleinunternehmen, der Selbständigen und all jener, die sich, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, für solche hielten. Deren Konsumverhalten tendierte aufgrund noch späterer Arbeitsbeginn-Zeiten ebenfalls zunehmend gegen Abend und verstärkte den Druck auf noch spätere Ladenschlusszeiten. Außerdem führte der zunehmende Städtetourismus mit immer kürzeren Aufenthaltszyklen zu einem weiteren Konsumdruck in Richtung Abend- und Nachtstunden. Durch die Intensivierung und Verlängerung der täglichen Stadtnutzung wurde die Nacht auch als „Reparaturphase“ der Infrastruktur immer wichtiger, man denke an Reinigungsbetriebe aller Art. Schließlich passte sich der Handel der Gesamtrichtung an und machte daraus den Versuch, den Absatz in Form nächtlicher Events zusätzlich zu vergrößern. Die „Lange Nacht des Shopping“ am Berliner Kurfürstendamm sowie Versuche, den Ladenschluss generell freizugeben zeigen dies deutlich. Dass der ganze Mechanismus sich in den Schwanz zu beißen beginnt, beweisen allerdings die immer späteren Vormittagsöffnungszeiten.
Berliner Tempo#
1895 richtete ein erstes privates Berliner Omnibus-Unternehmen den ersten regelmäßigen Nachtverkehr ein. Der Fahrpreis war doppelt so hoch wie am Tag. 1902 gab es bereits sieben Nachtlinien. Der österreichische Reporter Max Winter schrieb in seinem Städtevergleich Wien–Berlin 1914: "Aber die Berliner sind auch damit nicht zufrieden. Sie verlangen auch während dieser Zeit jede Stunde wenigstens einen Zug, der die Spätlinge zu sammeln hätte, die Nachtarbeiter vor allem, die Tausenden Zeitungs-, Verkehrs-, Lebensmittel- und Vergnügungsarbeiter sowie die Bataillone der Straßenreiniger, die spät von der Arbeit kommen oder vor dem Erwachen der Stadt zur Arbeit müssen. Sie alle erheben Anspruch auf Verkehr, während der ganzen Nacht, und mit Recht, denn eine Millionenstadt schläft nie."
Doch die Berliner Verkehrs-AG (BVG) blieb beim Nachtbusnetz sowie dem doppelten Fahrpreis. 1929 wurde der Busnachtverkehr durch einen Straßenbahn-Nachtverkehr auf neun Linien ergänzt. Der Takt betrug 15 bzw. 30 Minuten. 1934 wurde der Nachtverkehr durch den Wegfall des erhöhten Tarifes noch attraktiver gemacht. Prompt stieg die Nachfrage, weshalb 1935 der Betrieb auf 21 Linien erweitert wurde.
Nach Ende der Berlin-Blockade wurde 1950 der Sonnabend-Spätverkehr wieder aufgenommen. In den sechziger Jahren ließ man abermals die inzwischen wieder erhöhten Nachttarife fallen.
Am 6. April 1990 war es schließlich soweit: Die BVG führte als erste Verkehrsgesellschaft Europas den U-Bahn-Nachtverkehr ein. Zwei von neun U-Bahnen-Linien füllten im 15-Minuten-Takt die Lücke zwischen ca. 0.30 Uhr und 4.30 Uhr. Und nicht nur das. In dem neuen Konzept spielte auch die S-Bahn eine zunehmende Rolle, die im Ostteil der Stadt in den Nachtstunden unterwegs gewesen war. Möglicherweise war die durchgehende und betriebssichere Nacht-S-Bahn zwischen dem östlich gelegenen Hackeschen Markt und dem westlich gelegenen Bahnhof Zoo für manchen Berliner Nachtschwärmer die wichtigste Manifestation der Wiedervereinigung. Später wurde die Taktfrequenz zwar ebenso ausgedünnt, wie die großartigen Berliner Ausbaupläne zur Fünf-Millionen-Stadt. Aber trotz der Krise beschloss die BVG 2001 erneut ein expansives Nachtkonzept. Seither fahren fast alle U-Bahnen an den Wochenend- und Feiertag-Nächten.
Wiener Tradition#
Ein Wiener Nachtnetz besteht überhaupt erst seit 1955. Zwischen dem Staatsvertragsjahr und 1970 verkehrten neun Nachtbus-Linien am Wochenende sternförmig vom Stephansplatz aus. Zwischen 1970 und 1986 wurde das Nachtbus-Netz allerdings ersatzlos eingestellt. Erst 1986 wurde es wieder ab Schwedenplatz mit 30-Minuten-Intervallen eingeführt. Zwischen 1986 und 1995 gab es Busverkehr nur am Wochenende und vor Feiertagen auf acht Buslinien. Erst 1995 änderte sich dies. Ab Oktober 1995 verkehrten 22 Wochenendlinien halbstündlich und, wenn auch ausgedünnt, in den Wochentagsnächten. Bis zum Jahr 2000 blieb es beim höheren Nachttarif, erst danach galt der Tagestarif.
Derzeit nutzen das Nachtnetz pro Nacht am Wochenende etwa 16.000 Menschen, unter der Woche immerhin halb so viele. Mehr als 80 Prozent der Transportierten gehören zur Spezies der Nachtschwärmer und fahren stadtauswärts, Tendenz steigend. Auch in Berlin kennt man dieses Phänomen der Angebotsorientiertheit: Je besser das Nachtangebot, umso stärker wird es in Anspruch genommen.
Allerdings wurde in Wien, anders als in Berlin, wenig über neue Zeitstrukturen diskutiert. Manche Diskussionsteilnehmer, so Eberling/ Henckel in ihrer Studie, vollziehen ein „ . . .widerwilliges Nachholen von Modernisierungsschritten“. Insgesamt schätzten die Studienautoren 2002 Wien als konservative Stadt ein: „Im Gegensatz zu Berlin und Frankfurt hat die Ausdehnung urbaner Aktivitäten in die Nacht oder das Wochenende keine nennenswerte politische Lobby.“ Umso positiv bemerkenswerter erscheint, dass die Stadtregierung nun den Megatrend erkannt und zur Abstimmung freigegeben hat.
Technik und Sicherheit#
Wieso wurde Berlin der Spitzenreiter im europäischen U-Bahn-Nachtbetrieb? Einerseits wollte die Politik einen Modernisierungsimpuls liefern und die wiedervereinigte Hauptstadt ohne Sperrstunde zur Metropole ausbauen. Dabei kam der BVG ein besonderer, historisch gewachsener, organisatorischer Umstand zugute: Bei den anderen U-Bahnen Europas fahren die Fahrer nach Betriebsschluss nach Hause bzw. bei Dienstbeginn von zu Hause zum Einsatzort. In Berlin hingegen garantierte man einen pünktlichen und störungsfreien Verkehrsverlauf, indem man die U-Bahn-Garnituren und deren Fahrer bei Betriebsschluss in ausgewählten Verschubbahnhöfen sammelte. Anschließend verbrachte das Personal die betriebslose Zeit besoldet in Gemeinschaftsunterkünften. Dadurch wurde sichergestellt, dass Zuspätkommende keine Betriebsstörungen verursachten. Als der durchgehende U-Bahn-Betrieb am Wochenende gewünscht wurde, konnte man also auf Personal zurückgreifen, das in den Nachtstunden bereits bezahlt wurde.
Über diesen Vorteil verfügen die Wiener Linien nicht. Nach der offiziellen Schätzung des Unternehmens werden sich die gesamten Mehrkosten des U-Bahn-Nachtbetriebes jährlich auf mehr als fünf Millionen Euro beziffern, wobei die Einsparungen bei den Nachtbussen bereits abgezogen sind. Für Fahrdienst und Sicherheit werden etwa 2,6 Millionen Euro aufzubringen sein, für den Bereich Infrastruktur an die 3,2 Millionen, wovon die Stromkosten rund 1,5 Millionen Euro betragen. Ein großer Teil wird wohl auf Infrastruktur- und Sicherheitspersonal entfallen, ist also Folge eines ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses in einer Stadt, die ohnehin zu den sichersten weltweit zählt. Dass die Einsatznotwendigkeit der Polizei in allen europäischen Städten tendenziell zwar steigt und Personalabbau daher das falsche Signal darstellt, erscheint plausibel. Generell war in Berlin in den 90er Jahren eine ständige Ausweitung der Notruf-Polizeieinsätze am Tag und in der Nacht bemerkbar. Die Spitzen der Einsätze liegen allerdings die ganze Woche über in der Zeit zwischen acht und 23 Uhr. Zwischen zwei und fünf Uhr morgens gehen diese überproportional zurück, wenngleich am Wochenende in etwas geringerem Umfang.
Eine gerade durchgeführte Studie zur Sicherheit im Nahverkehr in Berlin/Brandenburg zeigt, dass es eher bestimmte S-Bahn- und Regionalbahnstrecken in den Tages- und Abendstunden sind, die subjektives Unsicherheitsgefühl bei vielen Fahrgästen auslösen. Ähnliches konstatieren Eberling/Henckel auch für Wien. Hier ist es zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens bei den Polizeirufnummern sehr still. Die danach stetig ansteigenden Notrufe beziehen sich, ähnlich wie in Berlin, vor allem auf Unfallereignisse im Straßenverkehr. Obwohl in der Nacht Alkohol konsumiert wird, konstatieren die Studienautoren: "Jugendliche sind zwar inzwischen abends länger unterwegs, dies macht sich aber nicht in einer Zunahme der Delikte in der Nacht bemerkbar. Hier ist eher die Lärmbelästigung für die Bewohner ein Problem, nicht Körperverletzung und ähnliches". Die Nacht-U-Bahn stellt also kein gravierendes Sicherheitsproblem dar, weder in Berlin noch in Hamburg, wo 2004 der Nachtbetrieb eingeführt wurde.
Die Hamburger holten sich vor einigen Jahren in Berlin wichtige Erfahrungsberichte ab; auch die Wiener Linien sind mit der BVG in engem Kontakt. In Berlin, so erfuhren die Wiener, verfolgte man anlässlich der Einführung des Nachtverkehrs 1990 ein ähnliches Konzept von Stationswarten, Begleitpersonal und Polizei, das sich langfristig jedoch nicht realisieren ließ. Stationswarte gibt es heute auch am Tag nicht mehr und die sogenannte "Service and Security"-Begleitung mit oder ohne Polizei kann allenfalls in Ausnahmefällen erspäht werden. Doch der für Sicherheit zuständige BVG-Mitarbeiter sieht das gelassen: „Nachts passiert nicht mehr und nicht weniger als am Tag." Dringender notwendig, so meinen manche, wäre ein energischer Begleitschutz in den S-Bahngarnituren zwischen Hackescher Markt und Bahnhof Zoo, da diese nachts am stärksten genutzt werden und die deutlichsten Alkoholfahnen nach sich ziehen. Wir wissen allerdings nicht, wie viele dieser Fahrgäste ohne Nachtbetrieb sich noch hinters Steuer setzen würden. Insofern bedeutet der Nachtbetrieb des ÖPNV auch ein Stück Sicherheit, zu dem allerdings noch keine Statistik angefertigt wurde.
Günther Luxbacher, geboren 1962 in Wien, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wissenschafts- und Technikgeschichte