Rasend schnell durch die Zeit#
Zeit ist relativ. Es gibt kein Sinnesorgan, um sie zu messen. Und dennoch ist Pünktlichkeit zum fixen Bestandteil unserer Gesellschaft geworden - eine Tatsache, mit der ein Teil der Menschen täglich hadert.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 10./11. Mai 2014)
Von
Petra Tempfer
Wien. Noch zehn Minuten, dann fährt der Zug ab. Noch fünf Minuten, noch zwei. Während die einen ständig auf die Uhr schauen, um die Abfahrt ja nicht zu verpassen, versuchen sich die anderen in einer groben Schätzung der verbleibenden Zeit - und kommen nicht selten zu dem Schluss, dass sich ja noch einiges anderes in diesen wertvollen zehn Minuten erledigen ließe. Mit dem Ergebnis, dass Erstere das Gefühl, einen Zug zu verpassen, gar nicht kennen, während es für Zweitere zum bitteren Alltag gehört.
Die Ursache dafür liegt tief. Das Problem, das daraus für Unpünktliche entsteht, ist selbstgemacht: Pünktlichkeit, genaues Einhalten von Fristen und strenge Arbeitszeitaufzeichnungen sind zum fixen Bestandteil des mitteleuropäischen Kulturkreises geworden. Man wird gemessen an seiner persönlichen Synchronisierung mit dem Terminkalender, an seiner Geschwindigkeit im Wettlauf gegen die Zeit.
Doch Zeit ist relativ. Wir besitzen kein Sinnesorgan, um sie zu messen. Niemand kann genau sagen, wie lange eine Minute dauert. Es gibt allerdings Uhren, und diese sind für die eingangs erwähnten notorisch Zuspätkommenden der Ursprung allen Übels. "Beim Zeitgefühl gibt es zwei Typen. Die einen orientieren sich an der Uhrzeit, die anderen an der Eigenzeit", sagt Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Von der Taschenuhr-Erfindung zum dichten Terminkalender#
Für die, die den Zug sicher nicht versäumen werden, bestimmt die Uhrzeit den Tag. Sie gibt vor, wie lange man frühstückt, wie lange das Mittagessen dauern darf und wann man am Abend das Lokal verlässt. Bei den Eigenzeit-Orientierten ist das anders. "Sie sitzen so lange bei einem Gespräch oder beim Essen, bis sie meinen, zu einem Ende gekommen zu sein", sagt Wittmann. Dass sie in dieser Zeit zwei weitere Termine gehabt hätten, merken sie oft erst im Nachhinein. Beiden Typen ist gemein, dass ihnen das enge Terminkorsett Stress bereitet.
Seinen Anfang hat alles im frühen 17. Jahrhundert genommen - mit der Erfindung der Taschenuhr. Davor waren es vor allem die Kirchturmuhren, die Menschen zur Pünktlichkeit bei ihren Messebesuchen mahnten. Mit dem Beginn der Industrialisierung in der Mitte des 18. Jahrhunderts griff die Uhrzeit als grundlegender Parameter des menschlichen Zusammenlebens zunehmend Platz. "Sie dient der Synchronisierung der Menschen", sagt Wittmann. Früher traf man sich "bei Sonnenaufgang", Küstenbewohner orientierten sich an den Gezeiten - die in Atomuhren gegossene Zeit von heute lässt im Gegensatz dazu keinen Spielraum.
Glücklich sind die, die Uhren gar nicht lesen können, mag so manch Unpünktlicher denken. Tatsächlich orientieren sich Kindergartenkinder ausschließlich an der Eigenzeit. Die Kulturtechnik des Uhrzeitlesens ist ihnen fremd, genauso wie das Einhalten von Terminen. "Kinder leben immer im Jetzt, die Zukunft blenden sie aus", so Wittmann. Beim Spielen vergessen sie alles. Auch, dass die Mutter vielleicht gesagt hat, sie müssen nach zehn Minuten aufhören und Mittagessen kommen. Was mit Zeitfenstern wie diesen beginnt und mit einem dicht gefüllten Terminkalender endet, ist laut Wittmann ein kultureller Lernprozess.
Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit#
Das Ergebnis: Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Glaubt man zumindest, wie eine Studie Wittmanns unter 500 Deutschen und Österreichern ergeben hat. Sie waren aufgefordert worden, auf ihre Lebenszeit zurückzublicken. Bis zu einem Alter von 60 Jahren nahm die gefühlte Geschwindigkeit des Zeitverlaufs stetig zu. Danach stagnierte das Zeitempfinden. Nach dem 65. Geburtstag ging es für einen Teil der Probanden ähnlich schnell weiter, für den Rest verlangsamte sich die gefühlte Zeit wieder.
Wittmann zufolge hängt das schnelle Zeitempfinden mit der zunehmenden Routine des Lebens zusammen: "Je mehr man erlebt und je mehr Erinnerungen man an eine gewisse Zeit hat, desto langsamer scheint sie vergangen zu sein." Einen Städteflug an einem Wochenende hat man zum Beispiel viel länger in Erinnerung als einen Monat Arbeitstrott. Aufgrund des Neuwertigkeitscharakters streckt sich rückblickend die Zeit - das ist auch der Grund, warum Kindheit und Schulzeit unverhältnismäßig lang erscheinen.
Schon viele Jahre vor Wittmanns Studie, 1924, hat der deutsche Schriftsteller Thomas Mann in dem Roman "Der Zauberberg" das veränderte Zeitempfinden thematisiert. Er lässt den in der Abgeschlossenheit eines Bergsanatoriums lebenden Joachim Ziemßen sagen: "Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen."