Raus ins Lager, ins Abenteuer #
Rucksackpacken mit der Pfadfindergruppe St. Calasanz, die Covid-Hürden überwinden und den ebenfalls systemrelevanten Freiheitsdrang ermöglichen konnte.#
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (23. Juli 2020)
Von
Wolfgang Machreich
„Schaut auf die helle Seite der Dinge anstatt auf die dunkle“, heißt ein Leitspruch des Gründers der Pfadfinderbewegung, Robert Baden- Powell. Ein guter Tipp für die Freizeitgestaltung im ersten Corona-Sommer. Ein guter Rat auch schon vor 125 Jahren, als die Naturfreunde die Arbeiterklasse zur Sonne, zum Licht führten. #
Pfadfinder-Sein ist so wie Heidi und Ziegenpeter, so wie Pippi Langstrumpf und Michel von Lönneberga, wie die Fünf Freunde, wie Kleiner Bär und Kleiner Tiger, wie Maus und Grüffelo und natürlich so wie Mogli aus dem Dschungelbuch. Pfadfinder- Sein ist wie die schönsten, aufregendsten, liebsten Kinderbücher live. Pfadfinder- Sein ist Zelten, Würstel grillen, am Lagerfeuer singen, Latrine graben, ist Nachtgeländespiele, ist Fackelschein, ist im Heu schlafen und vorher darin herumhüpfen. Die Beispiele zählt Traude Rochowanski auf die Frage nach den für sie prägendsten Eindrücken ihres Pfadfinderin-Seins auf: „Pfadfinder-Sein ist zurück zu den Wurzeln, ist in der Natur und in Gemeinschaft leben“, und weil ihr FURCHE-Visavis sie noch weiter fragend anschaut, schraubt sie die Erklärspirale noch ein kleines, aber wichtiges Stück weiter in Herz und Seele der Pfadfinderei hinein: „Pfadfinder-Sein ist Abenteuer durch und durch.“
Covid-19 durch und durch hätte das Pfadfinder- Abenteuer heuer fast um das „absolute Highlight des Jahres“ gebracht. Lange schaute es danach aus, als würde die Angst vor dem Virus die Freude an den Sommerlagern generell vergällen und ihre Durchführung verhindern. Für Rochowanski als Gruppenleiterin bei der Wiener Pfadfinder- Gruppe 23 „St. Calasanz“ eine Katastrophe, der „Ernteausfall“. Das Gemeinschaft- Lernen in den Pfadfinder-Gruppenstunden während des Jahres vergleicht sie mit einer Saat, die ausgesät wird: „Am Lager fährst du dann die Ernte ein. Sommerlager-Erinnerungen bleiben fürs Leben, sind auch eine wichtige Motivation für unsere Arbeit im Herbst und Winter.“
Lange hatte es so ausgesehen, als würden die Pfadfinder und anderen Kinderund Jugendorganisationen aufgrund der Corona-Pandemie auf diesen Motivationsschub verzichten müssen. Zum Leidwesen nicht nur der Lager-Veranstalter, sondern vor allem der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern.
Draußen zu Hause, bitte!#
Die Kinder gierten nach den Lockdown- Zeiten nach „Draußen zu Hause“. Die Eltern suchten nach einer sinnvollen Möglichkeit der Kinderbetreuung, um ihre begrenzten Urlaubszeiten mit der Länge der Ferien in Einklang zu bringen. Mithilfe von Lobbying und Expertise der Bundes-Jugend-Vertretung und ihrer Teilorganisationen gelang es schließlich doch noch, praktikable Regeln in Form eines 23 Seiten starken Ministeriumsdokuments zu schaffen. Die zentralen Sicherheitsvorschriften darin gleichen den auch sonst bekannten Corona- Regeln: Abstand ein- und Hygiene hochhalten sowie eine Begrenzung der Gruppengröße auf 20 Personen. Der Kontakt zu Externen sollte vermieden und für ausreichend Schlaf gesorgt werden – was gar nicht so einfach ist, wie alle wissen, die das Lagerleben kennen.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Rochowanski Astrophysik studierte, im Griff nach den Sternen somit geübt ist; vielleicht half auch, dass ihr, im Fundraising- Team der Caritas Österreich arbeitend, die Systemrelevanz von Gemeinschaft leben und erleben mehr als anderen bewusst ist.
Ganz sicher aber war ihre eigene Pfadfinder- Biografie von klein auf – angefangen bei den Wichteln und Wölflingen über die Guides und Späher bis zu den Caravelles und Explorern – ausreichend Impuls, um „jede freie Stunde neben der Arbeit in die Organisation eines den Corona-Richtlinien entsprechenden Sommerlagers zu investieren“. Mit Erfolg. Im August schlagen die Pfadis von „St. Calasanz“ ihre Zelte auf der Lagerwiese im oberösterreichischen Zell an der Pram auf – und was seit Generationen Buben- und Mädchenherzen höher schlagen lässt, kann und soll auch in diesem Jahr kein Virus verhindern: viel Lagerfeuer, Würstel, Fackelschein, Schlafsackwärme, und zumindest bei den Kleinsten darf in der ersten Nacht noch ein bisschen Heimweh dabei sein.
Sehr ähnlich dürfte es auch schon bei der Geburtsstunde der Pfadfinderbewegung gewesen sein: Am 29. Juli 1906 zeltete der pensionierte Offizier der britischen Armee, Robert Baden-Powell, seine Freunde nannten ihn „Bi-Pi“, mit 22 Buben auf dem winzigen Ärmelkanal-Felsen Brownsea- Island. So klein dieser Anfang war, so schnell und groß wuchs die daraus entstehende Jugendbewegung heran. Im Sommer 1920 fand in London das erste Weltpfadfindertreffen, Jamboree genannt, statt. 8.000 Pfadfinderinnen und Pfadfinder aus 34 Nationen nahmen teil. Beim Jamboree 1929 waren es bereits 50.000 Pfadfinder aus 72 Ländern; bis heute sind die Pfadfinder die weltweit erfolgreichste Jugendbewegung – und trotz wachsender Online-Konkurrenz beim Freizeitverhalten von jungen Menschen bleiben ihre Mitgliederzahlen auch im Internet-Zeitalter konstant. Der Verein „Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs“ ist der größte heimische Pfadfinderverband und zählt in 300 Ortsgruppen etwa 85.000 Mitglieder.
Zu sehr militärisch? #
In Wien gibt es rund 60 Gruppen. Die Gruppe 23 von Traude Rochowanski mit Namen „St. Calasanz“ passt insofern gut dazu, als sich der Heilige und Ordensgründer dieses Namens für die Förderung und Bildung von Kindern einsetzte. Bereits im Premiere-Lager auf Brownsea-Island wurden jene Grundprinzipien eingeübt, die zur guten Reputation der Pfadfinder bis heute beitragen: Liebe zur Natur, gepaart mit Respekt vor der Umwelt, sowie der Bereitschaft zur selbstlosen Hilfe für andere. Gleichzeitig legte der Kavallerie-Offizier im Ruhestand, Baden-Powell, viel Wert auf Disziplin und Gehorsam, gepaart mit Grundzügen paramilitärischer Ausbildung, die immer wieder und gerade auch in jüngster Zeit scharfe Kritik an den Pfadfindern, ihrer Grundausrichtung, Organisation und Erscheinung provozieren. Die Person Baden-Powell wird auch „intern sehr diskutiert“, sagt Rochowanski. Über den Gründer der Jugendbewegung, die den Großteil des Lebens der 36-Jährigen prägte und bis heute bereichert, lässt sie aber nichts kommen: „Sein Ansatz, jungen Menschen ein Leben in der Natur zu ermöglichen, und dass sie sich für Friedensziele und weltweite Verbundenheit einsetzen, ist ein guter.“ Dass ein ehemaliger Offizier bei der Strukturierung seines Vereins auf die Methoden aus seiner Militärzeit zurückgreift, ist für sie verständlich und „gewisse Strukturen vorzugeben, macht auch Sinn“. So wie jeder Sportverein seine Dressen hat, ist auch die Pfadfinder-Uniform ein Erkennungszeichen, auf das sie und ihre Gruppe auch bei Auslandsreisen regelmäßig positiv angesprochen werden: „Ich trage mein Halstuch gerne und mit Stolz, denn es steht für absolut sinnvolle Werte – und ich bin froh, dass Bi-Pi die Pfadfinder gegründet hat.“
Unterstützung erhält die Pfadfinderin vom „Poeten der Feldforschung“ (© Kleine Zeitung), Soziologie-Professor Roland Girtler: „Natürlich war Baden-Powell ein Militarist, aber keiner, der die Disziplin zum Schikanieren und ‚Obi-Tuan‘ anderer einsetzte, sondern um das Einstehen füreinander in seinen Gruppen zu organisieren.“ Girtler war selbst kein Pfadfinder, kennt und schätzt aber die Sommerlager-Philosophie aus seiner Zeit als Klosterschüler in katholischen Jugendgruppen. Seine Enkelkinder sind begeisterte Pfadfinder, sagt er im Telefonat mit der FURCHE und hat gleich eine seiner bekannten, beliebten, gescheiten Kulturvagabunden-Geschichten parat:
Internationale Verbundenheit #
Bei einer Feldforschung zu den altösterreichischen Landlern in Siebenbürgen traf er von seiner Enkelin begleitet in Hermannstadt/ Sibiu auf eine Pfadfinder-Mädchengruppe. Trotz Sprachbarrieren konnte sich seine Enkelin mit ihrem Pfadfinder- Zeichenwissen wunderbar mit der Gruppe austauschen. Girtler: „Diese Verbundenheit über Sprach- und andere Grenzen hinweg hat mir sehr imponiert.“ Selbst nach wie vor viel zu Fuß und per Rad unterwegs (im nächsten Jahr wird er 80!) steht für ihn das Gemeinschafts- und Naturerlebnis bei den Sommerlagern – „eine Schule der Großzügigkeit und des Humors“ – im Vordergrund: „Diese Lager schaffen wunderbare Möglichkeiten der Anerkennung durch andere. Und raus ins Grüne, in die Freiheit, das ist das Wichtigste. Der junge Mensch sucht das Abenteuer.“ Schade, dass der Professor und die Pfadfinderin nur in einem Zeitungsartikel zusammenkommen. Sie würden sich auch visavis blendend verstehen. Denn von den acht Pfadfinder- Schwerpunkten gefällt Rochowanski am besten: Die Bereitschaft zum Abenteuer des Lebens. Oder man könnte auch sagen: Pfadfinder-Leben ist wie die schönsten, aufregendsten, liebsten Kinderbücher live.