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Wir brauchen Querdenker mit Umsicht#

von

Manfred Nagl, Aachen, Januar 2017


Aachen
Krönungssaal Aachen. Photo: Privatarchiv Professor Gisela Engeln-Müllges

Einleitung#

Die „Initiative Aachen“ lädt immer wieder zu interessanten Ereignissen in den ehrwürdigen Aachener Krönungssaal ein, in jenen Saal, in dem die meisten deutschen Könige in Würdigung Karls des Großen nach 936 bis 1531 gekrönt wurden. Karl dem Großen setzte am Weihnachtstag des Jahres 800 Papst Leo III. in der Peterskirche zu Rom eine Krone aufs Haupt und machte ihn zum Kaiser.

Der prächtige Krönungssaal in Aachen dient seit Jahren für Großveranstaltungen (wie die Verleihung des Karlpreises für Engagement für Europa) und eben auch für Vorträge die geistreich, provozierend, Zusammenhänge herstellen und an Meinungen und Dogmen rütteln. Man muss diesen nicht in allen Punkten zustimmen, das Zuhören ist dennoch befreiend, weil es zur Abkehr von oftmals Gehörtem auffordert.

Bei einem der letzten Vorträge im Dezember 2016 aber hatte ich dieses Mal das Gefühl, dass wir von solchen Vorträgen und Rednern mehr brauchen, weil Querdenken und Zusammenhänge Herstellen seltener geworden ist und viel zu viel Meinungsverkehr nur noch auf ausgetretenen Wegen stattfindet. Warum kam dieses Gefühl auf? Und warum sind Querdenker, die nicht nur in eine Richtung schauen so wichtig?

Querdenker dringend gesucht#

Wenn alle eindimensional denken und dem Mainstream folgen, gibt es keine Kritik, alles ist alternativlos. Es gibt nur eine Richtung, keine Verzweigung, um woanders nachzusehen, kein Zurück, um zu vergleichen, ob der Pfad weg vom vormals Bestehenden denn einen Fortschritt gebracht hat.

War die Richtung des Denkens und Handelns falsch, so wird es teuer. Es ist wie bei einem Pendel. Erst nach einem großen Ausschlag merkt man, dass die Richtung nicht stimmt. Das Pendel muss zur Ruhe gebracht werden und in eine andere Richtung ausgelenkt werden. Das kostet viel Energie.

Warum gibt es diese alternativlosen Mainstream-Bewegungen ohne unterschiedliche Standpunkte und wo gibt es sie? Überall dort, wo der Glaube meint, den Verstand ausblenden zu müssen. Hierzu drei Beispiele, es gibt aber viel mehr.

Politik#

Parteien haben ein Programm, von dem sie nicht abweichen wollen, Politiker eine Meinung mit ausformulierten Argumentationssträngen, die sie nicht verlassen wollen, beide sind insofern „eindimensional“. Gibt es neue Einflüsse, die zu einer veränderten Haltung drängen, wird zunächst auf der alten Meinung beharrt. Lässt sich ein Wechsel nicht vermeiden, wird dem Wähler der Schwenk so inkrementell vor Augen geführt, dass er ihn nicht bemerken soll. Nach außen bleibt man bei seiner Richtung. Abweichler der allgemein vorgegebenen Richtung werden zur Räson gebracht und bei Listenaufstellungen für Wahlen nicht mehr berücksichtigt.

Als anderes Extrem sind Politiker hörig, wenn es um Meinungsumfragen geht oder um Entwicklungen des Zeitgeistes, denen man dann folgen muss. Dann kommt der sofortige und bereits erwähnte Schwenk, der dramatisch sein kann, aber inkrementell präsentiert wird. Jede Diskussion ist eher ein Kampf um Aufmerksamkeit, und dabei werden übliche Spielregeln verletzt. In Talkshows wird kaum mehr gegenseitig argumentiert. Stattdessen wir jede Gelegenheit ergriffen, den Gegner in seiner Argumentation zu stören.

Wir vermissen also Politiker, die nicht nur eine eigene Meinung haben, sondern die sich trauen, eine neue Meinung zu prägen. Darüber hinaus sollten sie das Format haben, diese Meinung in einem fairen Meinungsaustausch zu vertreten. Ideal ist es, wenn zur Rhetorik auch noch der gesunde Menschenverstand hinzukommt.


luftverschmutzung
Kannes so weitergehen? Photo: pixabay.com, unter PD
Photovoltaik
Lokale Photovoltaik, Photo: pixbay.com, unter PD
Windread
Lokales Windrad. Photo: pixaby.com, unter PD
Prius
Prius. Photo: pixabay.com, unter PD

Umwelt #

Es gibt kaum einen anderen Bereich, in dem der Glaube eine so große und die Rationalität eine so kleine Rolle spielen. Wir sind uns wohl einig: Fortschritte sind nur durch Technik und anderes Verhalten der Bürger möglich. Aber welche Technik ist anzuwenden? Gibt es darüber einen lebendigen Diskurs? Man hört nur eindimensionale Argumente, die nicht einmal Weitsicht in eine Richtung widerspiegeln und kaum jemand beachtet die Zusammenhänge. Zwei Beispiele will ich kurz anreißen.

Windkraftwerke sind ein Weg und auf hoher See bläst der Wind stärker. Dafür ist die Errichtung der Kraftwerke schwierig und teuer, ebenso die Verbindung zum Festland. Die Stromleitungen sind zu verstärken, für die Flexibilität der Netze neu aufzurüsten und intelligenter zu machen. Nicht zu reden von der im Großmaßstab nicht beherrschten Speicherung des Stroms. Warum geht es nicht dezentral, wie seinerzeit die Windmühlen in Holland? Diese bringen zwar nicht so viel, dafür brauchen sie nur eine lokale Infrastruktur, z.B. auf dem Dach eines Hauses. Darüber hinaus wird der Verbraucher für die Steuerung eingesetzt, er hat einen Vorteil, wenn er den Strom nutzt, den er selbst erzeugt hat, wenn dieser vorhanden ist oder gespeichert wurde.

Die Anreizsysteme der Vergangenheit haben das Gegenteil bewirkt, sie haben die Probleme verstärkt. Ähnliches gilt für die Photovoltaik. Es gibt auch noch viel anderes Kleinvieh, das Mist macht, wie die Verwertung von Holzresten aus dem Wald für die Strom-, Gas und Abwärmeerzeugung für eine kleine Siedlung, Schule, ein Hotel, oder analog das Nutzen von Resten landwirtschaftlicher Produktion auf einem Bauernhof. Solche dezentralen Lösungen vermindern die Leitungs- und Speicherprobleme und sie haben auch geringe Akzeptanzprobleme.

Das zweite Beispiel ist die Elektrifizierung des Verkehrs. Es wird das rein elektrisch betriebene Auto propagiert oder der Plug-in. Beides ist teuer und nicht ausgereift, der Käufer hält sich deshalb zurück. Wirksam und preiswert wäre stattdessen der milde Hybrid mit kleiner Batterie, bei dem der E-Motor nur beim Beschleunigen unterstützt und beim Schieben rekuperiert (s. früherer Prius).

Das würde den Spritverbrauch deutlich senken und nicht viel kosten. Ist man mit der (dezentralen) Stromerzeugung und –speicherung weiter, dann wird in 10 Jahren der Plug-in eingeführt und in weiteren 10 Jahren das Elektrofahrzeug. Warum macht man das nicht?

Weil bei der Berechnung des Gesamtflottenverbrauchs eines Herstellers bei E-Fahrzeugen so getan wird, als wenn der Strom nur alternativ erzeugt würde. Stattdessen kommt aber im Schnitt 2/3, in Sonderfällen fast alles von Atomkraftwerken oder von Verbrennungskraftwerken.

Deren Beitrag zur Verschmutzung und der gesamte Wirkungsgrad bei der Stromerzeugung und Nutzung werden nicht berücksichtigt. Es gibt also wieder einen falschen Anreiz für E-Fahrzeuge, obwohl die kleine Lösung umweltmäßig angebrachter wäre. Im Bereich Umwelt sind es somit oft falsche Anreizsysteme, die das Weiter-nach-vorne-Schauen (sowie das Denken in Zusammenhängen) verhindern. Hier spielt die Unvernunft der Politik und der Glaube der Jünger an die allein seligmachende Lösung Hand in Hand zusammen.

Journalismus#

Wir erhalten täglich Nachrichten aus Zeitungen und von Fernsehsendern, die sich kaum unterscheiden, um nicht zu sagen uniform sind. Es gibt tausende Nachrichten jeden Tag, wir haben zig Redaktionsteams. Wie kann es sein, dass aus diesen tausenden Nachrichten stets das Gleiche ausgewählt wird? Sind die Redaktionen zu vorsichtig, fühlen sie sich im Gleichklang mit anderen wohler, fehlt es ihnen an Mut und Originalität, sind sie von den politischen Parteien und deren Geflecht vereinnahmt?

Die gleichen Redaktionsteams haben Plagiaristen gnadenlos verfolgt und sie schreiben dennoch hauptsächlich voneinander ab. Es wird auch nicht mehr zwischen Nachrichten und Meinungen klar unterschieden, die Sendung soll locker daherkommen. Dieser Tage gab es eine halbstündige Nachrichtensendung zur besten Abendzeit, deren Inhalt mindestens zur Hälfte daraus bestand, dass es in zwei Parteien jeweils die Meinung eines Abweichlers gab. Das sollte eigentlich das Übliche sein, und die Nachricht darüber höchstens jeweils einen Satz wert. Ein weiteres Problem ist der investigative und „lebendige“ Stil. Bei Interviews geht es hauptsächlich darum, dem Befragten eine Nachricht zu entlocken, die sich als „skandalöse“ Headline verkaufen lässt. Der Interviewte reagiert mit Vorsicht und mit nichtssagendem Politikersprech. Der Inhalt, das Bemühen um Sachlichkeit und auch die Seriosität bleiben auf der Strecke. Ein weiteres Thema sind die Talkshows, in denen abgedroschene Meinungen wiedergegeben werden, die man bereits zigmal gehört hat und die durch Wiederholungen nicht richtiger werden. Ein solcher Diskussionsstil sowie das Mitbringen von Claqueuren dürfen eigentlich nicht erlaubt sein. Journalisten müssen unabhängig sein und dürfen nicht von Parteien „entsandt“ sein. Dies alles sollten Selbstverständlichkeiten sein, garantiert durch das Berufsethos.

Zwischenfazit#

Die alternative Meinung ist wichtig, der Mut zum Andersdenken, auch zur unbequemen Haltung und zum Weiter-nach-vorne-Denken: Wir erhalten eine breitere Sicht auf die Dinge, um die Richtung zu finden, in der die Lösung liegt und auch für die Lösung selbst. Damit werden Irrwege unwahrscheinlicher und die Lösung besser. Wir sparen so letztlich viel Energie und Geld. Dabei darf leidenschaftlich diskutiert werden und um den richtigen Weg gerungen werden, aber nicht unfair oder nicht nur das, was die vorherrschende Meinung vorgibt. Querdenker sind dabei Initiatoren, sie sind die Hefe, die die biochemische Reaktion in Gang hält, sie schärfen den Blick über den Tellerrand hinaus und sie verhindern das Hängenbleiben im Gewohnten und auch das Erstarren des Ganzen. Nur sie bringen die Dinge voran!

Umsicht ist ebenso wichtig#

Es ist notwendig, nicht nur weiter nach vorne zu schauen, um naheliegende Fehler zu vermeiden. Wir müssen stattdessen auch rundum sehen, um Querbezüge herzustellen, zu anderen Fakten, zu anderen Disziplinen und zu anderen Lösungen für ein Problem.

Denn für die Lösung komplexer Probleme ist selten nur ein Ansatz hilfreich oder nur die Beobachtung in eine Richtung. Wir brauchen auch die Betrachtung von Alternativen, die eine andere Richtung verfolgen, und wir müssen uns in alternativen Disziplinen umsehen. Dies ist nötig für die Diskussion von Lösungen, zum Herausfinden der besten Lösung und für das Nachdenken über Wege, die sich durch geschickte Kombination von unterschiedlichen Ansätzen oder Teilen davon ergeben.

Das ist nicht einfach und erfordert auch die Inkaufnahme von Mühen. Man verlässt seine gewohnte Umgebung, das persönlich verfügbare Wissen, die erworbene Erfahrung, die gewohnte Terminologie und Argumentation, die Arbeitsmethodik, und man stellt dabei auch sein eigenes Renommee in Frage. Es ist aber nötig, wie wir an obigen Beispielen aus der Politik, aus den Medien und aus dem Umweltschutz gesehen haben. Es ist bequem, auf eingefahrenen Wegen zu bleiben, aber es führt oft nicht weiter.

Nur noch einmal kurz zur Umweltthematik: Umweltprobleme erfordern zur Lösung Engagement, Bereitschaft umzudenken (auf der Lösungs- und Konsumentenseite) und Kenntnisse aus verschiedenen technischen und anderen Disziplinen. Falsche Anreize erschweren nicht nur die Lösung, sondern führen weg von einer vernünftigen Lösung. Eine falsche Regulierung durch die Politik ist deshalb viel schädlicher, als nichts zu verordnen. Der derzeitige Irrweg beruht auch auf dem Beharren auf großtechnischen Lösungen, dem Ignorieren der wirtschaftlichen Gesamtzusammenhänge sowie der Nichtbeachtung von Rückkopplungen. Der Nutzer ist aber ein wesentlicher Faktor der Gesamtintelligenz.

Die Demokratie und die Gesellschaft leben davon #

Wir brauchen ungewohntes Denken, eben quer und nicht beschränkt, um weiter nach vorne und auch Verbindungen zu sehen sowie die Konsequenzen des Denkens und Handelns. Das ist wichtig für den Diskurs, ohne den eine Gesellschaft nicht existieren kann. Dabei muss es nicht nur erlaubt sein, querzudenken und rundum zu schauen, jeder sollte aufgefordert werden, dies zu tun. „Die Gedanken sind frei“ ist nicht nur eine wohlgefällige politische Wunschvorstellung, sie ist ein zu praktizierendes Prinzip des Zusammenlebens. Wenn jemand nie zu Wort kommt, verstummt er oder er wird zornig. Natürlich muss mit dieser Freiheit bei Meinungsäußerungen auch verantwortungsvoll umgegangen werden. Die tägliche Praxis – insbesondere im Internet – zeigt, dass diese Verantwortung von vielen nicht gesehen wird.

Wir brauchen ein neues Denken und eine andere Art der Diskussion und Lösungsfindung, nicht nur in den drei oben aufgeführten Bereichen. Wir brauchen eine stärkere Betonung der Rationalität und der Vernunft und auch einen anderer Stil des Umgangs miteinander: Der Andersdenkende wird nicht runtergemacht, sondern er ist das Salz in der sonst langweilig schmeckenden Suppe. Wir brauchen hierfür einen anderen Politikansatz, andere Medien, eine andere Art des Denkens über Umweltschutz. Das Gleiche gilt für viele andere Bereiche. Ideal ist es, wenn das Nachdenken über Konsequenzen noch hinzukommt und alles auf der Basis gesunden Menschenverstandes geschieht.

Damit kein falscher Eindruck über die Haltung des Autors entsteht: Politik ist nötig und wichtig für ein friedliches Zusammenleben, die Umwelt wurde vernachlässigt und braucht einen neuen Politikansatz, ohne Journalismus sind wir ärmer, nicht informiert und den Gefahren von Falschmeldungen ausgesetzt. Es geht immer nur um die Frage des Wie und dessen Qualität. Alle diese Bereiche (und auch viele andere) stehen derzeit in der Kritik, und dies geschieht nicht ohne Grund.

Nagl
Autor Professor Manfred Nagl, geboren 1944 in Landskron.

Emeritus in der Informatik der RWTH Aachen.

Er war dort von 1986 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Softwaretechnik und hatte auch einige wissenschaftspolitische Ämter in Deutschland und auf europäischer Ebene.