Der Glaube lässt die Kasse klingeln#
Esoterische Praktiken sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.#
Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, 21. März 2018
Von
Edwin Baumgartner
Beate ruft an: "Kannst du mir die Runen werfen?" Sie will ins Kino gehen, ist aber nicht sicher, was ihre "Spirits" dazu meinen. Ihre Freundin Agnes hält bei einem nachmittäglichen Kaffeeplausch plötzlich inne und meint, ein Engel ginge durchs Zimmer, man würde es am Rosenduft merken. Horst fährt im Sommer nach Norwegen, um auf der Hardangervidda, der gletscherumsäumten Hochebene, Engelnamen zu chanten, also gesangsähnlich anzurufen. Christian, der Atheist, der am liebsten alle Religion staatlich verbieten und Kirchen, Moscheen und Gebetsräume in Unterkünfte für Obdachlose und Flüchtlinge verwandeln würde, hat eine Feng-Shui-Kristallkugel in die Mitte seines Wohnzimmers gehängt: Sie soll all die Strahlen von Fernseher, Handy und PC, die andernfalls im Zimmer wie ein Netz des Übels aufgespannt wären, auf sich ziehen, damit Christian mit diesen schädlichen Energien nicht in Berührung kommt.
Weder Beate noch Agnes noch Horst sind Spinner, und Christian ist auch keiner. Sie arbeiten in einem Ministerium, als AHS-Lehrer, als Werbetexter. Die esoterischen Praktiken sind in ihrem Freizeit-Alltag präsent. Am Anfang des Abgleitens in die Welt von Tarot, Runen und Globuli stand nur in einem Fall die gezielte geistige Auseinandersetzung mit der Frage, ob es mehr gäbe als die sichtbare und messbare Welt. In den drei anderen war es zuerst nur ein Spiel mit alternativen Möglichkeiten der Lebensführung: Wenn man das zukünftige Schicksal erkunden kann, kann man es dann auch manipulieren? Bei Horst war der Einstieg, man glaubt es kaum, und doch war es so, ein Liebeszauber, den ein Bekannter ihm vorschlug. Nachdem die Beziehung tatsächlich zustande kam, was aber (zumindest sei es gehofft) nicht an irgendwelchen Sprüchen und verbrannten Papierschnipseln lag, war Horst offen für Magie. Ob er auch Bannkreise auf dem Boden zieht? - Ja, gewiss, manchmal ist das notwendig...
Die Esoterik schleicht sich über Kleinigkeiten, die einem oft nicht bewusst sind, in den Alltag. Überspitzt gesagt: Am Anfang steht ein Zeitungshoroskop, zu dem der Leser beifällig nickt, und am Schluss ein Energetiker, der einen "energetischen Schutzring" um ein Krankenhaus legt. Den Unterschied macht im Prinzip nur das Geld: Das Zeitungshoroskop ist im Preis für das Blatt inbegriffen, der Energetiker bekommt für seine Arbeit 95.000 Euro. Doch von der Leistung her gleicht das eine dem anderen: Wer glaubt, dass in Konjunktion und Aszendent das Schicksal eingeschrieben ist, der sollte auch einen energetischen Schutzring um ein Krankenhaus für eine notwendige Investition halten.
Energetisierte Bergkristalle und Wellblechkonstruktionen mit aggressionshemmender Wirkung, lebendiges Wasser und Chemtrails, Tarot, Pendel, I Ging, Pyramiden aus diversen Edelsteinen und Quarzen zur Raumharmonisierung, Reiki-Fernheilung und Aluhüte, um vor schädlichen Strahlen zu schützen - es ist kein Wunder, wenn dann noch einer glaubt, homöopathische Globuli seien echte Medikamente und die Erde sei eine Scheibe. Der Fall des energetisch geschützten Krankenhauses geht derzeit durch die Medien vor allem, weil eine horrende Summe im Spiel war für haarsträubenden Humbug. Aber Esoterik ist nun einmal ein riesiges Geschäftsfeld, gerade weil die wissenschaftliche Überprüfbarkeit nicht gegeben ist. Der Glaube versetzt nicht nur Berge, er lässt auch die Kasse klingeln. Zwei Kupferdrähte rechtwinkelig abgebogen und mit Griffen versehen kosten, im Selbstbastelverfahren hergestellt, im teuersten Fall 3 Euro, als "Wünschelrute" verkauft im billigsten 27 Euro.
Die Esoterik ist einer Sucht vergleichbar. Die Einstiegsdrogen sind individuell unterschiedlich. Verblüffend stimmende Horoskope (eine Freundin hat die wichtigsten meiner zurückliegenden einschneidenden Lebensereignisse, von denen sie keine Kenntnis haben konnte, auf Zeitrahmen von fünf bis zehn Tagen genau festgelegt), ein Reiki-Schnupperkurs, den die Schwester einer Arbeitskollegin abhält (warum nicht für 60 Euro einmal etwas ausprobieren), ein homöopathisches Präparat, das einem der Freund empfohlen hat (und das tatsächlich wirkt, obwohl man an Homöopathie eigentlich nicht glaubt).
Fast scheint es, als sei der Mensch konstituiert für das Übersinnliche, für die unsichtbare Welt, die hinter der sichtbaren liegt, für die Spirits und ihre Kräfte, wie Beate es nennt. Die Aufklärung - ein Fehlschlag? Die Vernunft - eine mühsam aufrecht erhaltene Kulisse, hinter der die Engel und die Dämonen, der Voodoo-Doktor und die Geistheilerin nur auf ihren Auftritt warten?
Es geht nicht mehr darum, ob esoterische Praktiken wirken oder mittelalterlicher Mumpitz sind. Ganz wertfrei muss man feststellen: Die Esoterik ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Akzeptanz, die ihren Praktiken von Feng-Shui-gesäuberten Räumen über homöopathische "Medikamente" bis zum Granderwasser im Brot von einem der teuersten Bio-Bäcker Wiens entgegengebracht wird, bereitet den Boden für Voodoo im Spital und im Büro. Längst werden die Esoterikläden nicht nur von langhaarigen Gestalten mit haschverklärten Augen frequentiert, und in manchen ist die Luft sogar ganz normal. "Von Räucherstäbchen kriege ich immer Kopfweh", gestand mir einmal eine Angestellte solch eines Geschäfts. Homöopathie ist ein Wahlfach an der Wiener Medizin-Uni. Skeptiker haben da die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Der positive Nebeneffekt ist, dass ein zugelassener Homöopath in Österreich eine Ausbildung als Arzt haben muss. Erhebt solch ein Umgang mit der Homöopathie die Pseudomedizin über Gebühr, oder entzieht es sie dem Zugriff der Scharlatane? Wehret den Anfängen - das gilt nicht nur für den Nationalsozialismus, das gilt auch für die Esoterik. Die Schärfung des eigenen Sensoriums ist unbedingt notwendig, wie dort, so hier.