Listwjanka, ein sibirisches Dorf am Baikalsee#
Zugleich ein Blick in die Volksarchitektur dieser bäuerlichen Welt#
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Die Aufnahmen wurden vom Verfasser im Sommer 1982 gemacht. Sie sind Teil des Archivs „Bilderflut Jontes“
Sibirien mit einer Fläche von 13,1 Millionen km² trägt dazu bei, dass Russland der seinen Abmessungen nach größte Staat der Erde ist. Vom Ural bis einst sogar bis nach Alaska sind es an die 8000 km. Im Zarenreich wurde dieses Territorium im 17. Jahrhundert durch wagemutige Kosaken erobert, nach und nach auch mit ethnischen Russen besiedelt, wobei zahlreiche indigene Völker an den Rand gedrängt wurden. Schon im 18. Jahrhundert gab es hier mehr Russen als Autochthone.
Zur Zeit der Kosakenhetmane war das riesige Land vor allem wegen des Reichtums an Pelztieren begehrt und nicht von ungefähr zeigt das Städtewappen der Kolonistenstadt Irkutsk ein Fabeltier halb Tiger, halb Biber, das einen Zobel im Fang hält. Die begehrten Hermeline europäischer Herrschergewänder kamen meist von dort. Später ging es dann vor allem um Gold und Diamanten, bis dann im 19. und 20. Jahrhundert die Bodenschätze, Rohstoffe und Holz mit Relevanz zur modernen Industrie ausgebeutet wurden. Noch heute warten riesige Gebiete darauf, durch bergmännische Prospektion erschlossen zu werden. Seit der Machtübernahme durch den Kommunismus vor 100 Jahren geschah dies vor allem durch die Arbeitssklaven des kommunistischen GULAG bzw. Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs.
Sibirien war so weit von den europäischen Machtzentren Moskau und St.Petersburg/Leningrad entfernt, dass eine der Strafen für Gegner des jeweiligen politischen Systems darin bestand, die Verurteilten dorthin zu verbannen. Einer der Hauptorte an dieser Strecke ist die Stadt Irkutsk, die in unmittelbarer Nähe des Baikalsees an der Stelle liegt, wo der Fluss Angara den einzigen Abfluss desselben bildet. Der Baikal ist mit seinen 1642 m nicht nur der tiefste See der Welt. Er stellt auch mit 23.615 km² das inhaltsreichste Süßwasserreservoir der ganzen Erde dar.
Während des Eroberungs- und Erschließungsstoßes nach Osten wurde 1661 ein Kosakenfort gegründet, das 1686 das Stadtrecht erhielt.
Da es in hohem Maße intellektuelle Dissidenten betraf, wurde Irkutsk auch zu einem geistigen Zentrum im fernen Osten des Reiches. Die Errichtung der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis Wladiwostok ermöglichte dann auch den Transport von Menschen und Bodenschätzen über weiteste Distanzen. 1898 erreichte die Bahn den Ort, der heute von Moskau aus auch in etwa acht Stunden mit dem Flugzeug erreicht werden kann. Heute umfasst die Bevölkerung von Irkutsk, das auch Zentrum eines Verwaltungsbezirkes (russ. Oblast) ist, etwa 600.000 Seelen.
Im Landschafts- und Ökotypus Sibirien bildet die Taiga den prägenden Anteil. Dieses russische Wort ist wahrscheinlich einer ural-altaiischen Sprache entnommen und wird mit „dichter, undurchdringlicher, oft sumpfiger Wald“ übersetzt. Sie ist die Vegetationszone des borealen Nadelwaldes aus Fichten, Tannen, Lärchen und Kiefern, die von Inseln aus Birken und Espen durchsetzt ist. Die Taiga ist die nördlichste Waldform der Erde.
Die „Wandermaler“ (russ. Peredwizhniki) waren eine Gruppe von Künstlern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren besonderes Interesse der russischen Landschaft, ihrer Menschen und ihrer Geschichte galt. Sie waren in einer Gesellschaft vereint, die gemeinsame Ausstellungen organisierte und von einer Handvoll von Malern 1870 gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Russlands berühmtester Maler dieser Epoche Ilja Repin. Die beiden Abbildungen zeigen stimmungsvolle Waldlandschaften aus der unendlichen sibirischen Taiga und ihrer unvergleichlichen Stimmungen mit Birken und machtvollen Bäumen.
Im Umkreis von Irkutsk finden sich noch etliche Siedlungen, die sich einen halbwegs authentischen Charakter bewahrt haben. Eine der malerischsten davon ist Listwjanka mit etwa 2000 Einwohnern, das circa 70 km südöstlich der Hauptstadt des Oblast liegt. Der Name geht auf die russische Bezeichnung für die Lärche (russ. listwennitza) zurück. Hier befindet sich mit der Angara auch der einzige Abfluss des Baikalsees. Die erhalten gebliebene historische, aber noch durchwegs lebendige Holzarchitektur hat die Regierung bewogen, Listwjanka zu einem Ort hochzustilisieren, an welchem nicht Bleibe- sondern Besuchstourismus über einen Tag ohne Beherbergungsindustrie möglich ist.
Ein Haustyp Sibiriens ist geeignet, den Betrachter in Entzücken zu versetzen. Es ist das Wohnhaus, das in Russland als Izba bezeichnet wird. Von ihm haben sich in Listwjanka zahlreiche Beispiele erhalten. Es sind Behausungen in Blockbauweise mit Fassaden, die durch Fenster mit ihren geschmückten Fensterläden gegliedert sind. Das Baugrundstück ist immer auch von einem Holzlattenzaun von der Straße getrennt, der in Farbe und einfachen Schmuckelementen zur Würde dieser Art zu bauen beiträgt.
Irkutsk wurde 1979 durch eine Brandkatastrophe zu drei Vierteln eingeäschert. Dabei gingen an die 4000 Häuser verloren. Einige wenige schöne Izbas haben sich aber auch hier erhalten.
Die Kultur Sibiriens baute auf Landwirtschaft und Jagd auf Pelztiere auf und war dann auch mit dem Chinahandel von entscheidender Bedeutung, der Tee und Seide brachte. Den Grund bildete das Bauerntum, das sich hier eine eigene Baukultur schuf, die zwar von den Kolonisten her europäische Wurzeln hatte, sich aber an die gewaltigen klimatischen Herausforderungen der kältesten Regionen der Erde anzupassen gezwungen war. Holz war in unbeschreiblich großer Fülle vorhanden, Metalle wie das unumgängliche Eisen aber selten. Dieses blieb Pflugscharen, Beilen und anderen wichtigen Geräten und Werkzeugen vorbehalten. Es entstanden daher landwirtschafliche Gebäude, Bauernhöfe, die allein mit dem Breitbeil und ohne einen einzigen eisernen Nagel geschaffen wurden.
Die Sibiriaken sind der Einzigartigkeit dieser auf Holz basierenden Volksarchitektur bewusst und so gibt es leicht erreichbar etwa 30 km von Listwjanka entfernt das vorbildliche Freilichtmuseum Talzy.
Die Objekte in diesem in der Taiga gelegenen Museum der Baukultur sind nicht nur einzelne Gebäude, die man betreten darf. Es gibt ganze Dorfzeilen und Baugruppen, an welchen man die Dachformen und damit verbundenen Arbeitstechniken studieren kann.
Den mit Brettern gedeckten Dächern sieht man es an, dass sie im Winter große Schneelasten zu tragen und zu ertragen haben.
Das Gefüge aus Baumstämmen von Langholz ist so berechnet, dass bei Unregelmäßigkeiten die Fugen mit Moos ausgestopft und damit abgedichtet werden können. So entstehen gut isolierte Innenräume.
Eine Besonderheit sind die Bauernhäuser, die über zwei durch den Wohn- und Stallbereich getrennte Höfe besitzen. Der „trockene“ Hof ist mit glatten Dielen ausgelegt und darf nur ohne Schuhwerk betreten werden. Denn hier geschehen alle Manipulationen mit dem Getreide vom Dreschen oder Ausschlagen der Garben bis zum Worfeln.
Im Inneren dominiert der Ofen (russ. petsch, petschka), der bis zu einem Viertel der Wohnfläche des Erdgeschoßes einnimmt. Er ist als Wärmespeicher auch dazu da, dass man auf ihm zur kalten Jahreszeit, also fast das ganze Jahr hindurch schläft.