Tai Shan#
Über 7000 Stufen auf den heiligsten Berg Chinas#
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Die Bilder wurden als Dias vom Verfasser im Juli 1982 aufgenommen. Sie sind Teil des Archivs „Bilderflut Jontes“
China hat etliche heilige Berge, aber einer übertrifft sie alle. Es ist der Tai Shan, der „Erhabene Berg“ in der nordostchinesischen Provinz Shantung. Zwar übertrifft ihn an Höhe der Emei Shan, aber die frühe Bezeugung seiner historischen Bedeutung, die landschaftlichen Schönheiten, die zugleich voller herber Eindrücklichkeit sind, dann die zahlreichen Tempel und Inschriftenwände, weiters die Himmelsphänomene des Sonnenaufgangs machen ihn nicht nur zu einem der spirituellen Höhepunkte des Reiches der Mitte. Heute hat ihn auch der Tourismus fest in Händen und die einstige echte Fußpilgerfahrt auf seinen Gipfel ist längst durch eine moderne Seilbahn entschärft. Der Verfasser dieses Essays hat ihn 1982 erstmals ohne diese Hilfe bestiegen und ist den selben Weg auch wieder in die Tiefe gegangen.
Die Chinesen betrachten solche Berge als Punkte, an denen die Erde fest an den Untergrund der „Scheibe“ geheftet ist, die im antikischen Weltbild den Urgrund alles physischen Seins bildet. Nicht von ungefähr hat der Erste Kaiser und Einiger Chinas Qin Shihuangdi, der durch seine Terrakottaarmee heute in aller Bewusstsein ist, von seiner Spitze aus die Einheit des Reiches verkündet. Nach ihm haben 71 weitere Kaiser Pilgerfahrten hierher unternommen. Es finden sich auch Spuren Mao Zedongs, der eines seiner Gedichte diesem Berg widmete.
Der Tai Shan ist nur 1532 m hoch. Da er aber direkt aus der Ebene aufsteigt, ist der zu meisternde Höhenunterschied immerhin 1400 m. Mehrere Wege zu seiner Spitze gibt es, unter denen der wichtigste und landschaftlich und historisch bedeutendste der sogenannte Kaiserweg ist. Er ist 7,5 km lang und wenn man ihn wie der Verfasser begeht, hat man 7000 Stufen zu überwinden. Der Weg ist sehr steil, die Steinstufen so schmal, dass man meist gar nicht mit dem ganzen Fuß auftreten kann. Mit kurzen Pausen an kleinen Plateaus dauert eine solche Besteigung an die vier Stunden. Da ein Besuch außerhalb der Regenzeit zu empfehlen ist, beginne man seinen Gipfelsturm am besten frühmorgens. Und auch da ist es meist schon heiß, schwül und diesig. Eine echte Herausforderung!
Jede Reise beginnt mit einem Schritt, jede Treppe mit einer Stufe
Die bizarren Felsformationen inspirieren die chinesische Landschaftsmalerei seit einem Jahrtausend.
Steile Abbrüche weisen in die Tiefe, schmale Felsbänder bieten Raum für Föhren, die aus diesen starren Steinwänden lebendig bewegtes Wachsen der Natur erleben lassen.
Am Kaiserweg wohnen auch Menschen, bewirten die Pilger und staunen die ersten Europäer an, die diesen Weg wagen.
Vor dem Seilbahnbau waren noch richtige Kuli am Werken, die bauten und die Radarstation der Armee auf dem Gipfel mit allem Nötigen versorgten
Wo sich Menschen mit der Natur auseinandersetzen, beginnen auch die Deutungen solcher Landschaften. Viele Chinesen glauben auch heute noch an die Existenz von Drachen. Der chinesische Drache (chin. long) ist im Gegensatz zum feuerspeienden, menschenfeindlichen europäischen Lindwurm dem Menschen wohlgesinnt und im traditionellen Glauben verantwortlich für die gerechte Verteilung des Regens zum Segen der Landwirtschaft. Er ist so hoch geachtet, dass er das absolute Symbol für den Kaiser darstellt. Auf dem Tai Shan fließt viel Wasser und in manchem Bachtümpel soll auch ein Drache wohnen, wie die Anwohner meinen.
Die chinesische Schrift setzt für jeden Begriff ein eigenes graphisches Element. Sie ist eine Zeichenschrift und ihre Beherrschung als ästhetisches Symbol macht die Kalligraphie, die Schönschreibekunst zu einem gleichwertigen Teil der Bildenden Künste Malerei, Plastik und Architektur. Dichter, aber auch bedeutsame historische Persönlichkeiten erkennt der gebildete Chinese auch an ihrem Schreibstil. Ursprünglich in Bambusstreifen geritzt, dann aber mit Pinsel und Tusche auf Papier geschrieben erkennt man ihre Dynamik und innere Gefasstheit im Pinselstrich. Auf dem Tai Shan begegnen dem Besucher zahllose Schriftwände. Dabei werden die kleinen Zeichen in aller Individualität auch ins Monumentale übertragen, sodass man etliche Inschriften mit meterhohen Zeichen erkennen kann.
Die Kalligraphie Mao Zedongs, des Ästheten und Massenmörders
Der Tai Shan bedeutet den chinesischen Hauptreligionen sehr viel. Deshalb gibt es Monumente und Tempel, die auf Taoismus, Buddhismus und auch auf die Verehrung des Konfuzius weisen. Nähert man sich bei seiner mühevollen Stufenwanderung dem Ende der steilen Treppe, dann weiß man, dass es bald überstanden ist, wenn der „Tempel der azurblauen Wolke“ auftaucht und das Gipfelplateau nicht mehr ferne ist.
Hat man den Tai Shan bestiegen, so kehrt man nicht wieder um, sondern bereitet sich auf ein beeindruckendes Naturschauspiel vor, den famosen Sonnenaufgang am nächsten Morgen. Heute gibt es bereits formidable Hotels, 1982 war es noch eine mehr als primitive Herberge und von dem Essen, das serviert wurde, wusste man, dass jedes Reiskorn und jeder Happen Fleisch erst von Kulis heraufgetragen worden war.
Am Morgen ist es sehr kühl, aber viele Menschen erwarten bereits das Heraufsteigen des Hauptgestirns. Aus dem Grau der Dämmerung wird im Osten ein Spiel der Farben. Es ist ein bezwingender Anblick, wenn sich die Berge in der Ferne aus dem Nebeln der Nacht erheben und kulissenartig hintereinander stehend ein wunderschönes Gefühl räumlicher Tiefe vermitteln.
Die aufgegangene Sonne erwärmt die Luft, Windstöße treiben die letzten Nachtnebel vom Gipfel. Das Schauspiel ist zu Ende. Verschiedene Luftschichtungen sollen bewirken, dass man beobachten kann, wie die Sonne drei Freudensprünge macht, wenn sie den Heiligen Berg erblickt. Das christliche Abendland hat eine ähnliche legendenhafte Vorstellung: Wenn die Sonne am Ostersonntag aufgeht, macht sie aus Freude über die Auferstehung Christi ebenfalls drei Sprünge. Wunder des naturhaften Glaubens!