Der österreichische Mensch#
von Alfred Missong sen. (Vortrag in Zürich, 1951)
Siehe Anhang Lhotzky!
Es ist heute das erste Mal, dass ich in Ihrem Kreise sprechen darf. Ich freue mich darüber, empfinde Ihre Einladung als eine Ehre und sage Ihnen Dank dafür, dass Sie mir Gelegenheit geben, vor Ihnen das Thema "Der österreichische Mensch" zu erörtern. Dieses Thema gehört zu meinen eigentlichen Herzensanliegen, weil ich davon überzeugt bin, dass das neue Österreich, das 1945 unter so schweren Geburtswehen ins Dasein trat, nur dann politischen und wirtschaftlichen Dauerbestand haben kann, wenn es geistig grundgelegt ist in den Herzen und Hirnen der Menschen, die das lebendige Substrat dieses Österreich bilden. Es kann ja wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dass die Katastrophe der Vergewaltigung und Schändung, die unser Vaterland im Jahre 1938 ereilte - metaphysisch gesehen - auch eine Strafe war. Eine Strafe für all die Sünden, die seit dem Ende des 1. Weltkrieges gegen die Reinheit und Lauterkeit des österreichischen Menschentums, gegen die Idee des österreichischen Vaterlandes und Volkstums selbst begangen worden waren...Ich will es Ihnen in dieser Stunde, die eine österreichische Feierstunde sein soll, ersparen, die bösen und dunklen Geister der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu beschwören. Dagegen darf ich es mir nicht versagen, Ihnen die traurigste und schmachvollste Periode der österreichischen Geschichte, da Fremde, die sich Brüder und Befreier nannten, über unser Land und sein Schicksal geboten, in Erinnerung zu rufen. In diesen sieben Jahren der fremdherrlichen Despotie, während welcher die Besten unseres Volkes in den KZ's gemartert und auf das Schafott geschleppt wurden und unsere Väter und Söhne um verbrecherischer und räuberischer Ziele willen ihr Leben auf dem Schlachtfeld opfern mussten, - in diesen sieben Jahren ist es uns von neuem aufgegangen, was Österreich als Land, als Staat, als Volk, als Idee bedeutet: nicht allein für uns Österreicher, sondern überhaupt für die europäische Kulturmenschheit. So erwuchs aus der Schmach, Not und Tragik dieser Zeit ein österreichischer Patriotismus empor, wie es ihn zuvor - zu unserem Unsegen - kaum jemals gegeben hat. Manches daran mag bloß Strohfeuer, flüchtige Begeisterung gewesen sein, die den Stürmen und Versuchungen der noch immer andauernden leidvollen Nachkriegsära nicht gewachsen war; gleichwohl ist uns etwas geblieben, an das wir unsere Hoffnungen für die Zukunft heften können; das österreichische Selbstbewusstsein, dessen in aller Stille lodernde Flamme es zu hüten, zu nähren und weiterzugeben gilt.
Eine der Formen in denen dieses Selbstbewusstsein sich kundgibt, ist die Anerkennung der Existenz des österreichischen Menschen, dem wir in den letzten Jahren in zahllosen Reden von Politikern und in ebenso vielen Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen begegnen konnten.
Viel Vages und Nebelhaftes haftet dem Begriff des "Österreichischen Menschen" immer noch an, ja manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als verbänden die, welche die Formel vom österreichischen Menschen so leicht und lose im Munde führen, damit überhaupt keine rationale Vorstellung. Es ist vielfach nicht mehr als edles, vielleicht auch schwärmerisch-romantisches Sentiment, das in dem Worte vom "österreichischen Menschen" nach Ausdruck ringt. Zuweilen muss die Wortprägung "österreichischer Mensch" wohl auch als Schlagwort herhalten, um billige demagogische Effekte zu erzielen.
Wie immer es sich aber auch mit dem Gebrauch und Missbrauch der Wortprägung "österreichischer Mensch" verhalten mag, sicher ist jedenfalls, dass damit ein geistiges Sein gemeint wird, das durchleuchtet, dessen Geheimnis gelüftet zu werden verdient. Einen solchen Versuch, das geheimnisvolle Phänomen des österreichischen Menschen in etwa zu entschleiern, will ich heute wagen. Und zwar in derselben Weise, in der ich vor rund drei Jahren auf Einladung des Österreichischen Institutes in der Wiener Universität dieses Thema behandelte.
Als ich an der Wiener Universität über den österreichische Menschen sprach, stand ich unter dem Eindruck des genius loci de altehrwürdigen Alma mater Rudolfina, in der ich vor einem Vierteljahrhundert meine wissenschaftliche Ausbildung empfangen hatte. Darum lag es für mich nahe, den Geist meiner zwei berühmten Lehrer Prof. Othmar Spann und Prof. Hans Kelsen - zu zitieren. Beide - so grundverschieden sie auch voneinander und in ihrer Lehre waren - sind im Tiefsten österreichische Menschen gewesen, denen ich manchen unvergesslicohen Einblick in österreichisches Menschentum zu danken habe. Prof. Spann, der politisch freilich sehr gefährliche Wege ging und auf diesen Wegen auch gescheitert ist, war der Lehrer der so genannten Ganzheitsphilosophie. Den Leitgedanken seines Lehrsystems bildete der Gedanke von der Stufenfolge der Ganzheiten, in denen er das Geheimnis der Gliederung der irdischen Welt und ihrer steten Verbindung mit der Überwelt einzufangen suchte. Dieser Gedanke war es, der mir die Idee der Menschheit als der höchsten Ganzheit des irdischen Raumes klar vor Augen führte, so klar, dass mir die Menschheitsidee dauernder geistiger Besitz und unverlierbare Richtschnur meines soziologischen Denkens wurde. In diese Menschheit sah und sehe ich alle anderen Ganzheiten als Teilganzheiten eingefügt, und ich glaube, dass diese ständige Bezugnahme auf die Menschheit als ein ideelles Ganzes den Ausgangspunkt für jedes Bemühen um die Klärung des Begriffes "österreichischer Mensch" darstellen muss. So wie es ohne das Wissen um die Menschheitsidee kein Verständnis für die österreisohe Idee geben kann, lässt sich auch der österreichische Mensch nicht anders deuten denn auf dem Grund der innerlich begriffenen Idee von der Einheit des Menschengeschlechtes, wie sie uns der biblische Bericht in der Schilderung über das Hervorgehen der Menschheit aus dem einen Stammelternpaare anschaulich macht. Nur die Orientierung an der Menschheitsidee, die - wie mir scheinen will - dem österreichischen Menschen gleichsam selbstverständlich und wesenseigen ist, auch wenn er sich darüber keine Rechenschaft gibt, immunisiert gegen alle Wahnvorstellungen von Herrenrassen und Herrenvölkern, von selbstsicheren Nationalismen und menschheitsbedrohenden Imperalismen. Das solche Immunität gegen die barbarischeste Irrlehre unserer Tage - nämlich gegen den Nationalismus - als ein konstitutives Element des österreichischen Menschen gelten kann, möchte ich geradezu mit apodiktischer Sicherheit behaupten. Der - sagen wir - kosmopolitische Wesenzug des Österreichers, der gerade den von nationalistischen Fiebern geschüttelten Angehörigen anderer Völker so stark auffällt, findet darin seine plausibelste Erklärung. Auf eine kurze Formel gebracht, heisst das: Im österreichischen Menschen dominiert das Bewusstsein, dass alle Menschen, gleichviel welcher Hautfarbe und Sprache, gleichwertige Artgenossen sind. Die sprichwörtliche Bescheidenheit des österreichischen Menschen hat in diesem wahrhaft humanistischen Bewusstsein ihre stärkste Stütze.
Historisch erklärt sich die humanistisch-kosmopolitische Wesensschicht des Österreichers aus der geistigen Atmosphäre des österreichischen Völkerstaates, in dem alle drei großen europäischen Kulturrassen - Germanen, Slawen und Romanen - und ihre wertvollsten Mischungen vertreten waren und volle personale Gleichberechtigung genossen.
Der zweite meiner Universitätslehrer, den ich nannte, Prof.Kelsen der - nebenbei bemerkt - der Schöpfer der ersten österreichischen Verfassung und später als Berater Roosevelts der Autor der Charta der Vereinten Nationen war, verdankt seinen wissenschaftlichen Ruhm der von ihm geschaffenen Reinen Rechtslehre. In diesem rechtsphilosophischen Lehrgebäude nimmt die Entpersönlichung des Staates, die durch die Gleichsetzung von Staat und Rechtsordnung erzielt wird, eine schlechthin zentrale Stellung ein. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich meine, dass die in der Identifizierung von Staat und Recht bewurzelte Kelsensche Rechtsphilosophie auch eine wichtige Seelenschicht des österreichischen Menschen aufzuschließen vermag: nämlich den von allen personhaften Belastungen freien Gerechtigkeitssinn. Der oft und mit gutem Grund vermerkte antistaatliche Affekt des Österreichers, der sich in dem berühmten "Raunzen" über alle Akte der Gesetzgebung, der Regierung und des Behördenapparates Luft macht, spiegelt sich in der Reinen Rechtslehre Kelsens in charakteristischer Weise wider. Fraglos handelt es sich hier - psychologisch gedeutet - um den Wunsch, den Staat aus der Sphäre des Personhaft-Menschlichen hinaus zu drängen, um ihm seinen Platz in der Region des abstrakten Sollens zuzuweisen. Dies deshalb, weil die abstrakte Rechtsordnung ebensowohl Erhabenheit manifestiert wie sie Bagatellisierung und durchdringende Kritik leicht macht.
Aber nicht allein in der Gleichsetzung von Staat und Recht, wie sie Kelsen verkündet, glaube ich einen Grundzug österreichischer Denkungsart erkennen zu können, sondern auch in Kelsens rechtslogisch aufgebauter Doktrin vom Primat der Völkerrechtsordnung vor jeder einzelstaatlichen Rechtsordnung. Hier wird eine Brücke zur früher erwähnten Ganzheitslehre Spanns sichtbar, weil ja die Völkerrechtsordnung jenes Sollsystem repräsentiert, das der in Staaten gegliederten Menschheit als solcher zugehört.
Wenn Sie sich gegenwärtig vor Augen halten, welch große und schlechthin entscheidende Rolle das geistige Ringen um die Lockerung, ja Auflösung des übernommenen starren Begriffes der einzelstaatlichen Souveränität heute in der Weltpolitik spielt, werden Sie mir gewiss beipflichten in der Behauptung, dass das zukünftige Schicksal des Abendlandes vornämlich davon abhängt, ob es gelingt, in die einzelstaatliche Souveränität Bresche zu legen und sie von innen her umzuformen zu einem Teilbestandteil der Souveränität der werdenden Staatengemeinschaft Europas. Ohne die Vorarbeit Kelsens, der schon vor über 30 Jahren den Vorrang der völkerrechtlichen vor der staatsrechtlichen Souveränität postulierte, würde das heutige Bemühen um die Preisgabe des traditionellen staatsrechtlichen Souveränitätsbegriffes, der sicherlich das grösste Hindernis der politischen Gestaltung Europas bildet, kaum denkbar sein. So hat also eine rein rechtsphilosophische Doktrin, die wohl nur aus dem Geist des österreichischen Menschen entstehen konnte, den Weg in die Zukunft eines politisch geeinten Europas nicht bloß gewiesen, sondern rational freigelegt.
Diese grundlegenden Betrachtungen über den geistigen Hintergrund, auf dem der österreichische Mensch begriffen werden muss, haben uns mit drei notwendigen Antezedentien des österreichischen Menschen vertraut gemacht: mit dem ideell die ganze Menschheit umspannenden humanistisch-kosmopolitischen Denken, mit dem von allen persönlichen Beimengungen freien Rechtssinn und mit der Bejahung jener Rechtshoheit oder Souveränität, die nicht in der Enge und Teilhaftigkeit des einzelnen Staates verbleiben darf, sondern der Gemeinschaft der abendländischen Kulturstaaten zugeordnet werden soll.
Nun gilt es, eine systematische Analyse des österreichischen Menschen zu versuchen. Ich muss aber dabei gleich betonen, dass ich mich nicht für berechtigt halte, Abschließendes und Erschöpfendes über den Problemkomplex "österreichischer Mensch" auszusagen und dass ich auch nicht gesonnen bin, gleichsam als ein neuzeitlicher Barde ein von Lob überfließendes Epos auf den österreichischen Menschen zum Vortrag zu bringen. Ich will die lyrischen Huldigungen für Österreich und sein Volk - es gibt deren, wie Sie wissen in großer Zahl - nicht vermehren, sondern sehe meine Aufgabe darin, statt im Namen der beschwingten Leidenschaftlichkeit und des patriotischen Enthusiasmus, im Namen der Ratio - oder wenn es nicht anmaßend klingt - im Hamen des Logos über die typischen Wesenszüge des österreichischen Menschen zu sprechen. Leitstern muss uns dabei das Diktum des alten Philosophen sein, der sagte Amicus Sokrates, magis amica veritas - oder variiert und verdeutscht für unsern Fall: Österreich ist unser Freund, noch mehr Freund aber ist uns die Wahrheit!
Die Zeit, in der das Wort vom "österreichischen Menschen" als einer ganz besonderen species der Gattung homo geprägt wurde, liegt noch gar nicht so lange zurück. Meines Wissens geschah es erstmals und mit gewichtigen Argumenten in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Das ist nicht verwunderlich; denn erst, als das große österreichische Vaterland, das aus elf Nationen gebildete Vielvölkerreich, im Donner der Geschütze an der Marne, in Galizien und am Isonzo zusammengestürzt und nur das babenbergische Kernland als österreichisches Staatswesen übriggeblieben war, begann man über den Sinn der österreichischen Existenz und ihres Substrates - eben des österreichischen Menschen - ernsthafter nachzudenken. Vordem, als die Österreicher sich noch mit den Ungarn in die Regierung eines 50-Millionenreiches teilten und die Großmachtstellung ihres Staates trugen, bestand kein Anlass zu Reflexionen über den österreichischen Menschen, weil dieser damals weder der Welt noch sich selbst fragwürdig war. Es liegt hier etwas Ähnliches vor, wie wir es in der Kirchengeschichte feststellen können. Dogmatische Formulierungen wurden ja bekanntlich immer erst dann vorgenommen, wenn eine Glaubenswahrheit, die bisher als unbestritten gegolten hatte, durch Irrlehren angefeindet und damit irgendwie zum Problem wurde. Die Irrlehre, die damals - nach 1918 - in Österreioh die Existenz des österreichischen Staates und seines Menschentums fragwürdig machte, war die Theorie vom Gesamtdeutschtum, von dem die Österreicher nur ein kleines, mehr oder minder bedeutsames Partikelchen darstellen sollten.
Erfolgte so die Begriffsprägung "österreichiseher Mensch" in bewusster und gewollter Abwehr gegen die gesamtdeutsche Unifizierungsdoktrin, so haftete ihr naturgemäß von vornherein ein polemischer und politischer Akzent an. Anderseits lag offensichtlich das Bestreben vor, diese politische Akzentuierung zu entschärfen, um den Widerstand der deutschnationalen Irrlehrer nicht über Gebühr herauszufordern. Man wählte daher weder einfach die Bezeichnung Österreicher, die bloß den Charakter der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen schien und daher als zu farblos gelten musste, noch auch die präzisere Formulierung "Angehöriger der österreichischen Nation", die man für zu gewagt hielt. Zudem sollte das Schwergewicht ja nicht auf das Kollektivum, sondern auf den individuellen Typus gelegt werden.
Wenn wir Im Kreise der abendländischen Völker und ihrer national geformten Individualitäten Umschau halten, werden wir unschwer konstatieren können, dass bisher nirgendwo eine ähnliche Begriffsprägung versucht oder gar literaturfähig geworden ist. Niemand spracht beispielsweise vom 'italienischen Menschen", vom "französischen Menschen" oder vom "holländischen Menschen". Selbst die Bezeichnung "deutscher Mensch" kann kaum als gangbare Scheidemünze in Literatur und Publizistik gelten. Am ehesten ist es vielleicht noch möglich, im Bereiche des Slawentums eine dem Begriff "österreichischer Mensch" adäquate personal-typische Aussage zu machen. "Russischer Mensch" etwa würde irgendwie sinnvoll erscheinen, mehr noch slawischer Mensch, welch letzteres freilich schon keine echte Analogie zum "österreichischen Menschen" mehr darstellte, weil hier die Substruktion durch ein Kollektivphänomen, das man "Kulturrasse" nennen könnte, gebildet wird. Wir haben es also - was zweifellos eine "besondere Pikanterie ist - schon bei dem Begriffsgebilde "österreichischer Menssh" mit einer spezifischen Enunziation eben dieses österreichischen Menschen zu tun.
Wenn wir auch - was mir richtig scheint - die politische Genesis des Wortes vom "österreichischen Menschen" klar im Auge behalten sollen, ist es doch gewiss darüber hinaus notwendig, die Frage zu stellen, ob nicht der Hauptton eigentlich auf Mensch gelegt werden muss, wenn man die Begriffsformung "österreichischer Mensch" gut und richtig verstehen will. Mich dünkt, dass darüber kein Zweifel bestehen kann; denn die Aussage, die beabsichtigt wird, soll ja schon etwas Wesentliches, das dem "österreichisohen Menschen" eigen ist, kenntlich machen. Und dieses Wesentliche liegt - wie ich ja schon in den einleitenden Ausführungen über Österreich und Menscheitsidee sagte - im Primat des Menschentums, das für den Österreicher so charakteristisch ist, dass es besondere Unterstreichung verdient. Ich denke hier an einen Satz von Anton Wildgans, der in einem seiner Briefe die dem österreichischen Dichter gestellte Aufgabe durch den eindringlichen Appell kennzeichnet: "Seien wir jeder von uns ein Arbeiter und ein Mensch, dann wird unsere Arbeit und unsere Menschenstimme ganz von selbst unserem Lande mehr Ehre und Achtung einbringen, als wir ihm verschaffen können, wenn wir es preisen oder apostrophieren."
Wer den Anspruch darauf erhebt, als Typus des Österreichers anerkannt zu werden, muss sich des Vorranges seines Menschentums vor aller personalen oder nationalen Sondertümlichkeit bewusst sein und diesen Vorrang in seinem ganzen Gehaben sinnfällig machen. Das Epitheton "österreichisch" dient daher zwar der Differenzierung, aber doch gleichzeitig auch der Integrierung des Hauptwortes "Mensch". Schauen wir das, was ich Ihnen hier anzudeuten bemüht war, zusammen, so gelangen wir zu der Ansicht, die gleichzeitig eine Einsicht ist, und diese heißt: Der begriffliche Typus "österreichischer Mensch" hat ebenso viel Inhalt, wie er Verhaltenheit zeigt. Sein Inhalt besteht in der Heraushebung des Menschentums etwa in dem Sinne "Menschen, Menschen san mer alle", seine Verhaltenheit liegt darin, dass er keine nationale Ambitioniertheit und Selbstsicherheit im herkömmlichen Sinne verrät.
Spüren wir nun im Einzelnen den charakteristischen Merkmalen des österreichischen Menschen nach, so stossen wir zunächst auf den eigenartigen Gleichgewichtsszustnd von Lebenszugewandtheit und Resignation, der in der Seele des typischen Österreichers besteht. Wenn uns die große Welt, die in Österreich das Phäakenland sieht, in dessen Zentrum angeblich die Operette und der Heurige steht, als genießerische und genussüchtige Menschen beurteilt und aburteilt, so trifft sie damit gewiss eine Wahrheit, aber nur eine Teilwahrheit, die sich sogleich in Unwahrheit verkehrt, sobald eine andere korrespondierende Wahrheit nicht mitberücksichtigt wird. Ein düsterer lebensunfroher Österreicher ist ja fraglos ein trauriger Österreicher, wie ein Heiliger, der traurig ist, nur einen sehr traurigen Heiligen abgibt. Schon die Tatsache, dass die heiterste, lebensfroheste, ja geradezu schlechthin lebensumarmende Kultur des Barock den bisher unerreichten Höhepunkt österreichischen Lebens bezeichnet, lässt diesen Wesenszug des österreichischen Menschen deutlich werden. Und Österreich ist der einzige deutschsprachige Raum, in dem es eine Barockkultur gegeben hat. Der Kulturhistoriker Oskar Schmitz, der selbst ein Deutscher und zwar ein Hesse ist, behauptet in seinem 1924 erschienen Buch "Der österreichische Mensch" sehr treffend, dass das Barock als Versinnlichung des Erhabenen und Erhebung des Sinnlichen dem österreichischen Menschen geradezu wie angegossen passe, dass es gewissermaßen die reinste Ausdrucksform österreichischen Kulturwillens sei. Nur dort, wo Lebenszugewandtheit, Lebensbejahung, Lebensmut und Lebensfreude so selbstverständlich zu Hause sind wie in Österreich, konnte die Barockkultur den für sie notwendigen Nährboden finden. Allerdings muss hier unbedingt darauf hingewiesen werden, dass das Barock keine weltimmanente Lebensfreude, keinen bloß dem Zeitlich-Irdischen verhafteten Drang nach Pracht und Fülle künstlerisch verleibt, sondern dass es vielmehr die beiden Welten - Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz - in genialer Weise zusammenfasst und so zur Verkörperung einer im Tiefsten religiös begründeten Heiterkeit und Lebenslust wird. Nicht umsonst ist ja das Barock der Stil der Gegenreformation, also eine wesenhaft katholische Schöpfung, die noch dazu die dezidierte Antwort auf protestantistische Formverachtung und Bilderstürmerei darstellt.
Und doch dürfen wir die heitere, lebensfreudige Art des österreichischen Menschen nicht isoliert sehen; ihr Komplement findet sie in der Resignation, im Ressentiment, in der Skepsi. Der österreichische Mensch schwelgt nicht nur in den hellen, lichten und bunten Regionen der Freude und des Lebensgenusses, sondern er weiss auch um die Ernüchterung, die jedem schönen Traume auf dem Fuß folgt, er erkennt seine Unfähigkeit, die Welt so schön, so schwerlos und sorgenfrei zu gestalten, wie er es ersehnt. Das Misstrauen gegen sich selbst, das Bewusstsein, dass neben dem Schönen das Hässliche, neben dem frohen Genießen die Schalheit des Sündigens, neben der Phantasie die harte Lebenswirklichkeit wohnt, schaffen im Denk- und Lebensstil des österreichischen Menschen jene Spannung oder besser gesagt jenes Aequilibrium von Heiterkeit und Resignation, das wohl seine eigentlich tragende Lebensschicht erfüllt.
Der Österreicher hat - so können wir unter Benützung eines Wortes, das Lorenzo im "Kaufmann von Venedig" spricht, sagen - "Musik in sech selbst". Darin spiegelt sich ein großes und wesentliches Stück seiner barocken Lebensform wider, denn die Musik ist nach einer alten Definition "ein Gruß und Echo des Himmels auf Erden". Ohne diesen beständigen Gruß, ohne dieses stetig neu aufklingende Echo des Himmels, wäre dem österreichischen Menschen das Leben inhaltslos und unerträglich, er empfände es dann bloß als eine Tretmühle, nicht als ein Wandern zu schönen und lichten Gefilden, die nicht zuletzt deshalb schön sind, weil Musik sie erfüllt. Der Genuas, den die Musik gewährt, bildet den Jungbrunnen, dem es der österreichische Mensch zu danken hat, dass das doch oft so drückende Leben ihn nicht wirklich niederdrückt, dass er trotz des Wehs und der Traurigkeit dieser Welt vor dem Verzagtwerden, vor dem Verzweifeln bewahrt bleibt.
Die Resignation, von der zuvor die Rede war, spricht sich beim österreichischen Menschen auch in dem prononcierten Widerwillen gegen alles Pathetische aus. Diesem Widerwillen verschwistert ist der innere Protest gegen die lebenden Großen des eigenen Volkes, der oft sehr gefährliche Konseqenzen hat. "Pathos kann", schreibt Paul Thun-Hohenstein in seinem Büchlein über die "Österreichische Lebensformn", "dezennienlang das Feld der Meinungen beherrschen. Nichtiger Glanz, Lüge, Selbstsucht, Hochmut, Pathos sind zu allen Zeiten Regierer der Erdenwelt gewesen, sie alle lässt der Österreicher geduldig und verzeihend gewähren, ja lächelt wohl zu ihrem Tun, wenn es ihn nur nicht zwingt, mitzutun". Gut entsinne ich mich noch einer Szene, deren Zeuge einer meiner Freunde im Jahre 1931 gewesen ist. Damals, als der Hitlerismus seine ersten Jünger in Österreich sammelte, zog eines Tages ein kleines Häuflein von begeisterten Nazis über die Ringstrasse und sie schrien im Sprechchor; "Deutschland erwache!" Ein alter Wiener, der sich diese fanatisierte Demonstrantengruppe wehmütig lächelnd ansah, gab den Hitlergardisten schlagfertig die Antwort, indem er ihnen einen freundlichen "Guten Morgen" wünschte. Wohl ein treffliches Beispiel dafür, wie der österreichische Mensch in seiner instinktiven Ablehnung des Pathetischen und Fanatischen mit resigniertem Humor zu reagieren pflegte.
Hugo von Hofmannsthal hat einmal das ernste Wort niedergeschrieben: "Es liegt eine tiefe Gefahr in dem Verwesen unrealisierter Phantasien". Von dieser Gefahr erscheint der "österreichische Mensch", der seine großen und hohen Phantasien zumeist verwesen lassen muss, beständig umdroht. Das mürrische und unzufriedene Herumdeuteln und Kritisieren an denen, die Großes nicht nur träumen, sondern kühn in die Tat umzusetzen suchen, hat hier seinen Ansatzpunkt. "Wir haben", so lässt sich wiederum Thun-Hohenstein vernehmen, "keine Freude an unseren Großen, wir scheuen zurück vor der Höhe eines Gedankenfluges, der Absturz wäre zu grässlich, wir erzittern vor einer seltenen Gabe, könnte sie sich doch unversehens in Gift verwandeln." Es ist das aber nicht Philistertum, "das Grösse nicht erkennen kann und Erfolge nicht gönnen mag; hier geht es darum, dass ein Großer groß bleiben und dass sein Bild im Herzen der Kleinen, der Alltagsmenschen nicht zusammenbrechen möchte. Es ist die dauernde Angst vor der Unzulänglichkeit, die sich eines Tages entschleiern könnte, der Menschheit zum Schaden, jedem einzelnen zum persönlichen Schmerz". Viele Hunderte, ja Tausende von Österreichern mussten diese Skepsis, dieses scheinbare Unverstehen von ausserordentlichen Ideen und Leistungen im Laufe unserer Geschichte bitter genug am eigenen Leib erfahren. Manche sind daran zerbrochen und haben voll Verbitterung den "Dank vom Hause Habsburg" zitiert. Andere dagegen wuchsen gerade an dieser Wand der Resignation, die sich ihnen entgegenstellte, erst recht zu vollster Entfaltung ihres Genies empor und dokumentierten damit seine absolute Echtheit. Sie vermochten es deshalb, weil sie stark genug waren, auf Dank und Anerkennung zu verzichten - wissend, dass, wer Dankbarkeit für seine schöpferische Tat begehrt, diese damit schon in ihrem Selbstbestande entwertet.
Es spricht - so möchte ich sagen - aus diesem Ineinander von Lebensfreudigkeit und Resignation, das wir als Kennzeichen österreichischer Wesensart registrieren, eine ganz starke Gottnähe. Und zwar auch dort, wo sie weder gewollt noch bewusst ist. Letzten Endes heißt Verbundenheit mit Gott, Verweilen in seiner Nähe, ja eben doch nichts anderes als Erfülltsein von Sündenbewusstsein und Gnadensehnsucht. Der Gnadensehnsucht entspricht des Österreichers Drängen nach Fülle, nach Glanz, nach Schönheit; Wahrheit, Güte und Freude, während sich sein Sündenbewusstsein mit skeptischer Wertung irdischer Grösse und eigener Leistungskraft, mit Resignation und Ressentiment umkleidet.
Wir gehen vielleicht nicht sehr in die Irre, wenn wir in diesem gleichen Wurzelboden österreichischer Mentalität auch die Quelle der Beschaulichkeit suchen, die nach einem ungestörten Privatleben verlangt und jedem marktschreierischen Aktivismus, allem Tempo und aller lärmenden Betriebsamkeit abhold ist. Haben wir es nicht in diesem mörderischsten aller Kriege, der hinter uns liegt, in diesen Tagen der Bombennot und der nationalistischen Hassorgien erlebt, dass der Österreicher sich nicht kollektivieren lässt, dass er in keiner Gemeinschaft, welch schönen Namen sie sich auch beilegen mag, aufzugehen, ihr sein ureigenstes Ich, seine geheiligte Intimsphäre aufzuopfern bereit ist! Dieses sein privates Menschsein ist des Österreichers Arcanum, das er gegen jeden - auch gegen den sich allmächtig dünkenden Staat - mit wahrem Löwenmut verteidigt. Diese grundsätzliche Lebensanschauung sieht sehr individualistisch aus; man könnte geneigt sein, den Österreicher deswegen für den geborenen Individualisten und Liberalen zu halten. Aber das wäre doch ein Fehlbeurteilung, denn der Österreicher will nicht nur sein eigenes innerstes Menschentum gegen alle äusseren Zugriffe sichern, er will nicht bloß selber sein Leben leben, sondern es liegt ihm auch ganz ehrlich das Eigensein seiner Mitmenachen am Herzen. Es gibt dafür eine banal klingende Formel, nämlich die vom "Leben und Leben lassen", die sicherlich zutreffend ist, wenn sie auch nur die Oberfläche des Problems trifft. Weil der Österreicher "es versteht, Mensch für sich zu sein, ist ihm" - sagt Thun-Hohenstein - "auch die Anerkennung und Achtung des Nebenmenschen als Träger eines besonderen Ichs angeboren, und so entsteht in Österreich gerade aus einer gewissen Einzelgängerei, aus dem Wunsch des Individuums, die letzte Kammer seiner Seele gegen jegliches Eindringen abzuschließen, um sich selbst jederzeit allein darin aufhalten zu können, zugleich aber auch aus dem Wissen um das gleichgeartete Wünschen der anderen - so entsteht also in Österreich ein Gemeinsames, etwa wie ein Einverständnis der vielen in Bezug auf das Recht des Einzelnen". Echtes und unverletztes Personsein paart sich so in der Seele des österreichischen Menschen mit einem Gemeinschaftsbewusstsein ganz eigener Art. Dieses Gemeinschaftsbewusstsein hat nämlich nicht das abstrakte Kollektivum zum Gegenstand, sondern es sieht stets nur die anderen Personen, deren Zusammensein in der Gemeinschaft viel weniger wichtig erscheint denn ihr Dasein und Sosein als Personen, als Träger eigenen Menschentums mit seinen Rechten und Pflichten.
Nichts wird von den fremdländischen Beobachtern dem Österreicher so verübelt, wie die Verachtung der lauten Aktivität und geschäftigen Hast. Zuvörderst sind es - wir wissen das ja zur Genüge - die ob ihrer Tüchtigkeit berühmten Deutschen, die mit ihrem Tadel über diese "Untüchtigkeit", "Schlamperei" und "Schlappheit", und wie die despektierlichen Bezeichnungen sonst noch heißen mögen, ihr vernichtendes Urteil über österreichisches Wesen auszusprechen meinen, obwohl sie damit in Wahrheit nur sich selber das Zeugnis ihrer Veräußerlichung beurkunden. Ja, es ist wahr und wir dürfen es ohne Scham bekennen, dass wir Österreicher keine Aktivisten par excellence sind, dass wir weder den Fanatismus des Arbeitens noch die Glorifizierung des Tempos auf dem Gewissen haben. Die Arbeit als Selbstwert um der Steigerung der Sachgüter-Erzeugung willen wird vom österreichischen Menschen ebenso wenig begriffen wie der kasernenmäßige Drill, in dem der Preuße schwelgt, oder wie das atemberaubende Tempo, in dem der Amerikaner dem Geld nachjagt. Zweifellos offenbart sich in dieser unserer Denkungeart ein Fluidum orientalischen Geistes. Und sicher ist es auch, dass wir unsere rein instrumentale Wertung des Arbeitens und des Betriebmachens durch unser jahrhundertelanges Zusammenleben mit Slawen und Italienern gefestigt haben. Diesen Völkern geht ja die Meditation vor der Aktion, ihr Wesenskern enthält ein starkes Element passiver Beschaulichkeit. Ein bezeichnendes Sprichwort sagt, der Deutsche lebe, um zu arbeiten, der Österreicher aber arbeite, um zu leben. Nur in der Hinordnung zu dem lebensmäßigen Wert, den die Arbeit zu erzielen vermag, und in steter Abhängigkeit von ihm erscheint dem österreichischen Menschen die Arbeit schätzenswert. Er ist vom Orientalen, der die Arbeit schlechthin flieht, so lange es irgendmöglich ist, ebenso weit entfernt wie vom Norddeutschen, der die Arbeit umfängt, als ob sie seine Geliebte wäre. Dass die Arbeitsleistung des Österreichers deshalb quantitativ oder qualitativ geringer wäre als die des leidenschaftlichen Arbeitsmenschen, kann indes keineswegs mit Fug und Recht behauptet werden. Es liegt ja hier nicht Faulheit vor, sondern ganz einfach eine richtige Rangordnungserkenntnis, eine - so möchte man fast sagen - teleologische Einschätzung der Arbeit, die zwar stets als Opfer - und das ist die Arbeit in der christlichen Weltorfnung ja auch - empfunden, aber doch mit Gewissenhaftigkeit und Ausdauer verrichtet wird, solange sie sinnvoll erscheint, solange sie die Erreichung eines wirklichen Lebenswertes verheißt.
Übrigens muss man es doch irgendwie grotesk nennen, dass die harten Kritiker der österreichischen "Schlappschwänzigkeit" zum Teil wenigstens Lobredner der österreichischen Gemütlichkeit sind. Sie scheinen nicht zu begreifen, wie innig und unzertrennlich der österreichische Arbeitsstil mit der von ihnen gepriesenen und als wohltuend empfundenen Gemütlichkeit zusammenhängt. Nur dort, wo man das Leben über die Arbeit, das Sein über das Betriebsamsein stellt, kann jene Atmosphäre der lebenszugewandten, vornehm genießerischen Behaglichkeit entstehen, in der sich die Gemütlichkeit verwirklicht. "Gemütlichkeit" leitet sich ja nicht allein dem Verbalsinn nach vom Gemüte ab, und das Gemüt tritt nur dann in sein vordergründiges Recht, wenn Geschäftigkeit, Hast und Habgier zum Schweigen verurteilt sind.
Apropos Schweigen. Auch das Schweigenkönnen und das zeitweilige Schweigenwollen rangiert unter den Eigenschaften des Österreichischen Menschen an gewichtiger Stelle. Nur selten begegnet uns ein Österreicher, der sein Innenleben auf der Zunge trägt und es sogleich in einem Redeschwall ergießen muß. Zwei Dichterworte haben dieser Schweigsamkeit des Österreichers Ausdruck verliehen. Das eine heißt: "Der Österreicher denkt sich sein Teil und läßt die andern reden" und das andere lautet:Der Österreicher denkt, wo andere sprechen". In beiden Sentenzen des Poeten wird der Primat des Denkens vor dem Sprechen betont und dem Österreicher nachgesagt, dass seine Schweigsamkeit in seiner Denklust begründet sei. Dieser Aspekt ist bedeutsam; denn Schweigen kann sehr wohl auch in Ratlosigkeit, in Betretenheit, in Beklommehsein und natürlich auch in Schwerfälligkeit seinen Grund haben. Beim österreichischen Menschen ist es dagegen so, dass er durch sein Schweigen nur bekunden will, er müsse den Sachverhalt erst geistig durchdringen, ihn erst durchdenken, ehe er die Straße des Wortes zu betreten vermag. Die Vielredner, die Glossolalen der verschiedensten Couleur, sind nämlich durchaus nicht immer, ja nicht einmal im Regelfall die raschen Denker, sondern sie fliehen ins Wort, weil ihnen das Verweilen beim Gedanken, das Einswerden mit ihm oder die Auseinandersetzung mit ihm zuwider ist. Die Fülle der Worte soll bei ihnen vielfach die Kärglichkeit ihrer Gedanken, die Bruchstückhaftigkeit ihres Denkens verbergen. Sie suchen im Sprechen und in den Formeln, die ihr Sprechen schafft, die Selbstsicherheit, die sie in ihrem Denken noch nicht gefunden haben. Natürlich gewinnt der Sprechfreudige gegenüber dem Schweigsamen leicht die Vorhand; es kann ihm meist ohne Schwierigkeit gelingen, Meister des Augenblicks zu werden und eine momentane Wirkung zu erzielen, die dem Schweiger versagt bleiben muss. Dem Österreicher liegt es daher nicht, den Tag für sich zu gewinnen, er braucht das Dezennium oder gar das Säkulum auf seiner Seite. Die Redlichkeit des Denkens, die den Österreicher am vorschnellen Wort behindert, schützt ihn gleichzeitig auch vor der Suggestivkraft der triumphalen Rede, die nur dort zum vollen Effekt gelangen kann, wo das Denken sich leicht in den Hintergrund drängen lässt. Für die Demagogen, die Volksaufwiegelung für Politik ausgeben, ist das Leben darum in Österreich weit leidvoller als in vielen anderen Ländern. Thun-Hohenstein verweist darauf,dass die denkerisohe Begabung des österreichischen Menschen durch die Erfahrungen der Pädagogik mit internationalem Schülerkreis ihre statistisch erhärtete Bestätigung gefunden hat. "Wie jahrzehntelange Beobachtung ergab, pflegen sich die Österreicher in den unteren Klassen der Mittelschule, in denen es noch mehr auf das Erlernen als auf selbständiges Denken ankommt, durchaus nicht vor anderen Mittelschülern auszuzeichnen. Dieses Bild ändert sich aber in der Oberstufe allmählich zugunsten der Österreicher und bringt diese immer stärker in Vorteil, je mehr der fortschreitende Unterricht selbständiges Denken fordert und unterstützt. So gewinnt der an den österreichischen Mittelschulen für die Schlussprüfung übliche Name "Matura" seinen besonderen Sinn dadurch, dass es sich hier nicht um das Abgangszeugnis, um das Abiturium handeln soll, sondern um die "Reife" zum Eintritt in das selbständige Leben."
Die negative Kehrseite der dem Österreicher eigentümlichen Konzentration auf das Denken zu Ungunsten des Redens bildet die Zaghaftigkeit im Entschließen. Wer mehr denkt als redet, dem fällt es nicht leicht, an irgendeinem Punkt, der doch schon einen Abschluss bedeuten kann, den Denkprozeß abzubrechen und kühn und wagemutig ein Ja oder Nein zu deklarieren. Während nämlich das Denken noch vor sich geht, ändert sich meist der Sachverhalt, der durchdacht wird, neuerlich, und regt so wiederum zur Fortsetzung des Denkvorganges an. So kann es also leicht geschehen, dass das unstillbare Denkbedürfnis die Bereitschaft zum Entschluss erstickt ader wenigstens stark hemmt. Die unvermeidliche Folge ist dann, dass das "Fortwurschteln", das sich von der Unentschiedenheit nährt, zum ungeschriebenen Gesetz erhoben wird und dass der Österreicher in kritischen Momenten, wo der rasche Entschluss allein den Ausweg weisen kann, zu spät kommt. Napoleon I., sprach das treffende Wort: "L'Autriche est toujours en retard, d'une armée, d'une année, d'une idée."(Österreich ist immer im Hintertreffen - um eine Armee, um ein Jahr, um eine Idee).
Die Besonnenheit des Denkenden, der nicht sogleich zugreift, weil das, was ihm geboten wird, sich doch so leicht als Pofelware erweisen könnte, trägt daran die Schuld. Der österreichische Mensch neigt eben dazu, den Schwung der Dynamik zu verkennen, aber gleichwohl passiert es ihm nicht häufig, dass er den wahren ideellen Gehalt dieser Dynamik unrichtig wertet. Das Heute und das Morgen finden ihn so oft als "rückständig", das Übermorgen aber muss ihm mindestens ebenso oft den Tribut zollen, dass er weise daran tat, sich dem Dynamischen nicht in die Arme geworfen zu haben.
Ganz klar ist es, dass diese österreichische Eigentümlichkeit des Zurückschreckens vor jähen und umwälzenden Entschließungen ein hohes Maß von konservativer Gesinnung und Haltung bedingt. Wir brauchen nicht allzu weit zurückschauen in der Geschichte unseres Vaterlandes, um dafür die Belege zu finden. Bedenken wir nur, wie tiefgreifend die politischen Wandlungen sind, die sich in den Jahren von 1938-45, da dem Satan Macht gegeben war über Europa, vollzogen haben. Setzen wir diese Umbrüche, Aufbrüche und Einbrüche von Ideen und massiven Geschehnissen in Vergleich mit der politischen Struktur Österreichs, so erkennen wir unschwer, dass kaum ein anderes Volk des abendländischen Kulturkreises die gleiche Stabilität politischen Denkens und politischer Machtgruppierung aufweist wie unser Land. Ich wage ohne weiters zu behaupten, dass gerade die konservative Substanz des österreichischen Menschen sein wertvollstes politisches Kapital darstellt, dass sie zusammen mit der Weltoffenheit, die so eminent charakteristisch ist für den Österreicher, die Grundlage der politischen Begabung des österreichischen Menschen abgibt. Während die konservative Besonnenheit, die gegen das Abgleiten ins Neue und Unbekannte auf der Bahn des Progressismus immun macht, die Innenpolitik gediegen fundiert, ist das Geöffnetsein gegenüber allen Völkern und Rassen die unverzichtbare Voraussetzung für jenen weltpolitischen Blick, der es dem Österreicher unmöglich macht, Kirchturmpolitik mit Außenpolitik zu verwechseln.
Wir können es heute noch nicht voraussagen, wie lange die "werbende Anmut" des Österreichers, von der Oskar Schmitz spricht, und die er als eine der Spiegelungen tiefen Weltverstehens bezeichnet, noch vorhalten wird, wenn das Erbe an übernationaler Gesinnung aus den Zeiten des Völkerreiches allmählich dahinschwindet. Eine Gefahr dieser Art ist zweifellos vorhanden und sie wird in dem Maße aktueller werden, als unsere Abschnürung von den anders nationalen Kulturräumen andauert oder sich gar noch verstärkt. Heute zehren wir noch von dem ererbten Bewusstsein, dass wir nur ein Stücklein des geistigen Kosmos dieser Welt sind und dass allüberall neben und um uns andere Völker wohnen, die unsere Einseitigkeit korrigieren und selbst eine gleiche Korrektur durch uns erfahren sollen. Nicht umsonst wurde ebenso wie die Idee vom Primate des Völkerrechts die Paneuropa-Idee, die erst in unseren Tagen wirklich zu einem echten Politikum geworden ist, in Wien konzipiert - und zwar von einem Österreicher, der mit vollem Recht behauptet, seine österreichische Gesinnung habe ihn dazu inspiriert, das Konzept einer politischen Einigung der europäischen Völker zu entwerfen. Die Herbsttage des Jahres 1926, in denen der erste Paneuropa-Kongress im Wiener Konzerthaus stattfand und durch Dr. Ignaz Seipel begrüßt wurde, waren denkwürdig für die Geschichte Europas nicht minder wie für Österreich. Damals brach die weltpolitische Weitsicht des österreichischen Menschen in den Dschungel der europäischen Anarchie ein - und wir dürfen hoffen und erwarten, dass die im Werden begriffene Europa-Union sich der geistigen Herkunft aus Österreich dankbar erinnern wird. Die übernationale Idee, in deren Zeichen der österreichische Mensch geworden ist, hat in der politischen Wendezeit, an der wir angelangt sind, die denkbar größte vielleicht aber auch die letzte Chance, sich großräumiger als sie einst konzipiert war, neu zu verleiben. Die Brunnenstuben des Geistes, aus dem allein dies geschehen kann, liegen in Österreich. Oskar Schmitz schrieb schon vor 28 Jahren: "Das Quellgebiet des Geistes, aus dem einmal die Vereinigten Staaten von Europa entstehen können, liegt in dem heute tief erniedrigten Österreich, aber vielleicht werden die Letzten noch einmal die Ersten sein."
Kehren wir indes zu der von uns behaupteten politischen Begabung des österreichischen Menschen zurück, bzw. besehen wir sie von einer anderen Seite. Sie gründet nämlich darin, dass der Österreicher hoher Träume weltumspannender, im echtesten Sinne des Wortes barocker Konzepte fähig ist, aber auch die weite Distanz abzumessen vermag, die zwischen diesen Träumen und ihrer Realisierbarkeit klafft. Hier spielt wieder die schon erwähnte vorsichtige Zurückhaltung, die Scheu vor jeder Übereilung herein. Wir möchten darum dem österreichischen Menschen ein visionäres Talent zuschreiben, das sich in seltener Weise mit dem Wissen um die Kunst der hic et nunc immer sehr beschränkten Möglichkeiten verbindet. Was aber könnte für den politischen Menschen wichtiger sein als dies? Während nämlich der phantastische Träumer zum reinen Utopisten wird, vermag der österreichische Mensch in seiner Geduld und Vorsicht Stein um Stein zusammenzutragen, um so allmählich das scheinbar Utopische endlich doch in die Sphäre der Wirklichkeit zu transponieren. Solche Haltung gegenüber der Idee und der Realität verleiht eine instinktive, eine geradezu nachtwandlerische Sicherheit. Friedrich von Gentz hat diese instinktive Sicherheit beim Staatskanzler Metternich feststellen zu können geglaubt. Er sagte dem Fürsten einmal mit einem leisen Unterton des Vorwurfs, er handle gar nicht naoh einem festgelegten Plan, nach einem ausgedachten System, sondern aus einer jeweiligen Intuition heraus. Erst nachher füge er seine intuitiven Handlungen zu einem System zusammen. Was von Metternich galt, lässt sich mutatis mutandis vielleicht auch vonIgnaz Seipel, dem fraglos bedeutendsten Staatsmann, den die Erste Republik aufweisen kann, behaupten, obwohl Seipel als Gelehrter, der er im Grunde seines Wesens doch war, natürlich weit mehr als Metternich eine Disposition zum Systematischen besaß.
Die gewisse Weichheit, Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit des Österreichers, die jedem aufmerksamen ausländischen Beobachter auffällt, hat sehr viele und verschiedene Gründe, auch solche rassischer Art. Es kommt in ihr das slawische Element, das irgendwie in jedem österreichischen Menschen steckt, zur Geltung. Aber auch die gewichtige Rolle, welche die Frau als Erzieherin bei uns spielt, darf nicht gering geschätzt werden. Oskar Schmitz spricht ein wenig übertreibend geradezu von einer "verdeckten Frauenherrschaft". Er meint, im allgemeinen werde der österreichische Knabe zu ausschließlich von der Frau erzogen, während der deutsche "Junge" zu wenig erzieherischen Einfluss seitens der Weiblichkeit erfährt. Wir können nicht mit statistisch erhobenen Tatsachen aufwarten, welche diese Ansicht von Schmitz zu stützen oder zu widerlegen imstande wären, aber wir wissen es gleichwohl, dass Weiblichkeit und Mütterlichkeit für ein Gutteil dessen verantwortlich gemacht werden dürfen, was man als die "werbende Anmut" des österreichischen Menschen zu bezeichnen pflegt. Ein Negativem ist jedenfalls in dieser bestimmenden Einflussnahme der Frau auf die Prägung des "österreichischen Menschen" gewiss nicht zu sehen. Ganz im Gegenteil. Auch historisch steht fest, dass die große Kaiserin Maria Theresia,die als Regentin trotz aller Bestimmtheit ihres Verhaltens keinerlei männliche Allüren annahm, als eine echte Repräsentantin österreichischen Menschentums angesehen werden muss. Und wir finden es höchst charakteristisch, dass es beispielsweise in der ganzen deutschen Geschichte keine einzige Frau von solch beispielgebender Wirksamkeit gibt, wie Maria Theresia es gewesen ist.
Ich habe versucht, Ihnen in skizzenhaften Andeutungen ein Bild des "österreichischen Menschen" zu entwerfen, so wie ich ihn sehe. Eine große Anzahl spezifisch österreichischer Eigenschaften und Merkmale ist dabei vor uns Revue passiert - als die dominierende aber trat die Menschheitsnähe und Weltoffenheit hervor. Sie soll am Schluss noch einmal besondere unterstrichen werden. In einer kleinen, vor mehr als 20 Jahren erschienenen Studie über die Völkerstaatsidee habe ich auf die tiefen Worte verwiesen, die der ungarische König St. Stephan in seinem Testament seinem Sohne und Erben Emmerich einschärfte. Sie lauten: "Unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est".- "Ein Reich, in dem es nur eine Sprache und eine Sitte gibt, ist hinfällig und gebrechlich". Wir Österreicher hatten das große Glück, Jahrhunderte hindurch in engstem geistigen und wirtschaftlichen Kontakt, in einem echten commercium und connubium mit etwa l0 anderen Völkern des Abendlandes zu leben und so vielerlei Sitte und Sprache kennen, achten und lieben zu lernen. Wir gaben diesen Völkern große Werte, ohne die sie vielleicht nicht zu politischer und kultureller Selbständigkeit hätten gelangen können, aber überheblich und falsch wäre, es zu glauben, dass wir in dieser Gemeinschaft mit Slawen und Romanen nur die Gebenden und nicht auch die Empfangenden gewesen seien. Unser "österreichisches Menschentum" konnte überhaupt nur werden, reifen und sich entfalten, weil wir das Fremde und Andersartige stets gegenwärtig hatten und bereit waren, uns Wesentliches davon zu unserem Eigen zu machen. So nur vermochten wir das nationale Ghetto zu sprengen und emporzusteigen zu einer Form des nationalen Seins, die menschheitsnahe ist und darum Menschheitsgültigkeit besitzt. Schier alles wird für uns davon abhängen, ob wir es zuwege bringen, in dieser Menschheitsnähe zu verbleiben und nicht in nationalistische Enge und Partikularität hinabzusinken. Freilich dürfen wir uns, um diesen menschlichen Standard im Geistigen und Seinsmäßigen zu bewahren, auch nicht scheuen, das Individuum "österreichischer Mensch" in seinem kollektiven Zusammenhang zu sehen und diesem Kollektivum einen eigenen vollwertigen Namen zu geben. Dieser Name kann kein anderer sein als "Natio Austriaca", österreichische Nation, die in der politischen Welt von heute einen ebenso guten Klang haben wird wie einst - zu Zeiten der österreichischen Großraumpolitik - die "Clementia Austriaca", die "österreichische Milde". Dem Begriff "Nation" können wohl überhaupt nur wir Österreicher seinen menschheitsfeindlichen Sinn nehmen und ihm dafür seinen wahren Sinn geben, der sich in der Einfügung ins Menschheitsganze, nicht in dessen Zersplitterung erfüllt.
Die alten Astrologen unterstellten Österreich der Venus und Preussen dem Mars. Wir unterstellen Österreich nach einem schönen Wort Abraham a Sancta Claras dem Ostergedanken; denn es ist das Osterland, weil es stets - auch nach dem blutigsten und furchtbarsten Calvaria, ein neues Ostern, eine neue Auferstehung gewärtigen darf.