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Vom Weltkrieg zur Weltrevolution #

Im November 1916, den letzten Lebenstagen von Kaiser Franz Joseph, dessen heuer ausgiebig gedacht wird, verfasste Lenin seine wichtigsten theoretischen Schriften, die zur Grundlage der Oktoberrevolution und so entscheidend für den Weltenlauf wurden. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag, 24. November 2016)

Von

Wolfgang Häusler


Wladimir Iljitsch Lenin
Wladimir Iljitsch Lenin
Foto: IMAGNO / ÖNB

Österreichs jubiläumsgetriebene Erinnerungskultur brachte es fertig, das Todesdatum Franz Josephs, 21. November 1916, zum Anlass eines „Kaiserjahrs“ zu machen, seine „Unpersönlichkeit“ (Karl Kraus) als „ewigen Kaiser“ zu beschwören. Hofburg, Schönbrunn, Hofmobiliendepot, Sisi-Museum, Kapuzinergruft, Bad Ischl bieten sich als Erinnerungsorte für Geschichtsvermarktung und Kulturbetrieb an. Wolkige Metaphern zu 1914 – Urkatastrophe, Schlafwandler, Büchse der Pandora – werden fortgeschrieben, statt Ursachen und Folgen des Weltkriegs zu bedenken. Der 100. Jahrestag des Todes von Cesare Battisti am Galgen (Trento, 12. Juli 1916), Symbolbild der „Letzten Tage der Menschheit“, fand in Österreich kaum Aufmerksamkeit. Allzu wenig beachtet wurde auch das Jubiläum des Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien (Sykes) und Frankreich (Picot) vom 16. Mai 1916 zur Aufteilung des Vorderen Orients, das verhängnisvoll in den Konflikten der Gegenwart fortwirkt.

Der Widerstand gegen den Krieg wächst #

Mit dem Fortschreiten des Großen Kriegs steigerte sich das technische Zerstörungspotenzial: Schwere Artillerie, Maschinengewehre, Stacheldraht, Giftgas, Flammenwerfer, U-Boot und Torpedo, Luftkampf, Tanks. Vor Verdun, an der Somme, am Isonzo, im Hochgebirge wurde „Menschenmaterial“ in „Stahlgewittern“ (Ernst Jünger) vernichtet. Seit dem dritten Kriegsjahr zählten die Massen der Toten und Verstümmelten nach Millionen. Ausbluten und Aushungern des Gegners hieß Strategie. Der heroische Kriegsschauplatz war zu „schmatzendem und gellendem Dreck“ geworden, „Gestank von zersetztem Gemäuer, Menschenkot, Pulverruß und eingetrocknetem Blut“ (Arnold Zweig, „Erziehung vor Verdun“). „Die Welt speit Blut“ – so der „Aufruf“ der sozialistischen Opposition in Deutschland, Ende 1915. Die Zeichen des Widerstands mehrten sich: Rosa Luxemburgs Junius-Broschüre, Karl Liebknechts tausendfach widerhallender Ruf bei der Berliner Maidemonstration 1916: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“, das Attentat Friedrich Adlers gegen Ministerpräsident Stürgkh, ein Monat vor dem Tod Franz Josephs.

Kurt Tucholsky wird Arnold Zweig erinnern: „Sehn Sie sich Lenin in der Emigration an: Stahl und die äußerste Gedankenreinheit.“ Am 8. August 1914 hatte die bolschewistische Duma-Fraktion gegen die Kriegskredite gestimmt. Am selben Tag wurde Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der sich seit der Prager Parteikonferenz 1912 in Krakau und Poronin nahe Zakopane aufhielt, verhaftet und elf Tage gefangen gehalten. Durch die Intervention Victor Adlers kam er frei und traf Anfang September in der neutralen Schweiz ein. In diesen Tagen nationalistischer Kriegsbegeisterung definierte Lenin „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“: „Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den scharf ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie innerhalb der Länder aus der Welt zu schaffen [...] – das ist der einzige reale Inhalt des Krieges und seine Bedeutung.“ Den „Opportunisten“ und „Sozialchauvinisten“ rief Lenin das anlässlich des Balkankriegs verfasste Manifest der internationalen Baseler Konferenz 1912 in Erinnerung. Hier fand er die „Taktik des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse gegen die eigenen Regierungen, die Taktik der proletarischen Revolution“.

In der Zürcher Spiegelgasse fanden so manche revolutionäre Gedanken ihren Ursprung: Lenin (großes Bild) wohnte hier
Revolutionäres in Gang bringen. In der Zürcher Spiegelgasse fanden so manche revolutionäre Gedanken ihren Ursprung: Lenin wohnte hier
Foto: Wikimedia

Im Schweizer Exil #

Die Konferenz von Zimmerwald (September 1915, fortgesetzt in Kienthal April 1916, beides Kurorte nahe Bern mit Alpenblick) benutzte Lenin, gemeinsam mit Trotzki, zur Verurteilung der „sogenannten Vaterlandsverteidigung als ein Mittel des größten Betrugs, um die Völker dem Imperialismus zu unterwerfen“. Arnold Zweig stellte die Wirkung des Zimmerwalder Manifests in der Person des Soldaten Pahl dar, von Beruf Schriftsetzer: „Er sah sie gleichsam um den Tisch sitzen, die Vertreter der leidenden Völker, mit zerdachten Gesichtern, zerpflügten Mienen, und ihre Kriegserklärung beraten, für die sie bereit waren, in die Gefängnisse zu wandern: Sie erklärten Krieg der Völkerverhetzung, allem Nationalwahn, allen Kriegsverlängerern, sie riefen auf zum Zusammenschluß quer über die Grenzen, zu gegenseitiger Hilfe der unterdrückten Klassen.“

Von Bern übersiedelte Lenin mit seiner Frau Nadeshda Krupskaja – er redete sie mit Genossin an, sie nannte ihn Iljitsch –, nach Zürich. Unter der Adresse Spiegelgasse 14 lebte er hier vom 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 in einer Zweizimmerwohnung als Mieter eines Schuhmachers um 24 Franken im Monat. „Gleich hinter der Limmat in der engen, alten, buckligen Spiegelgasse haust er im zweiten Stock eines jener festgebauten, dachüberwölbten Häuser der Altstadt, das verräuchert ist, halb von der Zeit, halb von der kleinen Wurstfabrik, die unten im Hof arbeitet. [...] Dieser kleine untersetzte Mann ist so unauffällig wie möglich. Er meidet die Gesellschaft. Selten sehen die Hausleute den scharfen, dunklen Blick in den schmalgeschlitzten Augen.[...] Aber regelmäßig, Tag für Tag, geht er jeden Morgen um neun Uhr in die Bibliothek und sitzt dort, bis sie um zwölf geschlossen wird. Genau zehn Minuten nach zwölf ist er wieder zu Hause, zehn Minuten vor eins verläßt er das Haus, um wieder als erster in der Bibliothek zu sein, und sitzt dort bis sechs Uhr abends“ – so Stefan Zweig im letzten Kapitel seiner „Sternstunden der Menschheit“.

Alexander Solschenizyn, der scharfe Kritiker der stalinistischen Fehlentwicklungen der Sowjetunion, plante für einen großen russischen Geschichtsroman ein Kapitel „Lenin in Zürich“; er ließ sich Lenins Leserkarte zeigen – 1917 wurden Kantonal-, Stadt- und Universitätsbibliothek als Zentralbibliothek vereinigt.

Hugo Ball gründete das Cabaret Voltaire
Büchner verbrachte auf Nr. 11 seine letzten Monate, Goethe besuchte Lavater, und Hugo Ball gründete das Cabaret Voltaire
Foto: Wikimedia

In der ersten Jahreshälfte 1916 vollendete Lenin sein Hauptwerk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Aus den Vorarbeiten des Briten John A. Hobson und des Austromarxisten Rudolf Hilferding zog Lenin den Schluss: Der Imperialismus ist die Ursache des Weltkriegs, als „sterbender Kapitalismus“ Voraussetzung der kommenden Weltrevolution. Wichtige Fragen seiner Texte und Thesen erörterte Lenin mit seiner „lieben Freundin“ Inès Armand in Paris grundsätzlich in einem Brief vom 20. November 1916, dem vorletzten Lebenstag Franz Josephs. Lenin ging eben daran, die politischen Konsequenzen der Revolution in Permanenz und die Fragen von Demokratie und Diktatur des Proletariats mit philologischer Präzision aus den Schriften von Marx und Engels festzustellen. Ergebnis war das um die Jahreswende 1916/17 niedergeschriebene Heft „Marxismus und Staat“, Vorarbeit zu „Staat und Revolution“ als theoretische Grundlage der Oktoberrevolution! Inessa Armand wird 1917 in jenem Zug mitreisen, der Lenin und andere Berufsrevolutionäre zum Finnländischen Bahnhof in Petrograd bringen wird...

Die Zürcher Spiegelgasse als Angelpunkt #

Im Nachbarhaus Lenins, Spiegelgasse 12, verbrachte zuvor ein revolutionärer Dichter die letzten Monate seines Lebens: Georg Büchner hatte sich im Widerstand gegen die Reaktion in Hessen exponiert und sich mit den Protagonisten der Tragödie der Französischen Revolution auseinandergesetzt – „zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte“: „Dantons Tod“. Büchner wich politischer Verfolgung; parallel zu seinen naturwissenschaftlichen Studien und Vorlesungen mühte er sich weiter um das menschliche Elend einer entfremdeten Gesellschaft: „Woyzeck“ blieb Fragment, als er 1837 23-jährig an Typhus starb.

Dreht man sich um zum Haus Spiegelgasse 11, entdeckt man Geburts- und lange Wohnhaus von Johann Caspar Lavater (1741-1801), dessen „Physiognomik“ die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist, zwischen Christentum und Aufklärung, stellte; Goethe hat Lavater hier 1775 und 1779 besucht.

Wir wissen nicht, inwiefern Lenin die Geburt des Dadaismus in dem von Hugo Ball am 5. Februar 1916 gegründeten Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse 1 zur Kenntnis nahm. Die informelle Gruppe Dada kämpfte als Aufruhr und Protest, in einer Revolution der Kunst gegen Gewalt und Krieg, mit scheinbar irrationalen Ausdrucksformen, Lautgedichten und Aktionen. Die Dadaisten verweigerten bewusst eine Definition. Dennoch das Bekenntnis zur geschundenen Humanität: „Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wiederherstellen sollte.“ (Hans Arp).

So wurde die alte Zürcher Gasse zum Spiegel des revolutionären Prozesses der Welt, die es zu erkennen und zu verändern gilt.

DIE FURCHE, Donnerstag, 24. November 2016