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Alfred Schütz und die Lust am Widerspruch#

In der Zwischenkriegszeit bildeten sich in Wien zahlreiche Diskussionszirkel außerhalb der Universität. Wie dieser Wissensaustausch funktionierte und warum er für die Sozialwissenschaft so wichtig war, untersuchten die Soziolog*innen Tilo Grenz und Michaela Pfadenhauer und ihr Team.#

Im Wien der Zwischenkriegszeit verhärteten sich die Fronten zwischen Liberalen und Konservativen – auf der Uni waren nicht länger alle erwünscht. (Blick über Wien ca. 1932
Im Wien der Zwischenkriegszeit verhärteten sich die Fronten zwischen Liberalen und Konservativen – auf der Uni waren nicht länger alle erwünscht. (Blick über Wien ca. 1932, © Wikimedia/gemeinfrei)
Bei seiner Recherche stießen Tilo Grenz von der Uni Wien und sein Team auf teils kurioses Datenmaterial: So wurden beispielsweise Lieder über die Diskussionszirkel geschrieben.
Bei seiner Recherche stießen Tilo Grenz von der Uni Wien und sein Team auf teils kurioses Datenmaterial: So wurden beispielsweise Lieder über die Diskussionszirkel geschrieben. (© Sarah Nägele)

Im Wien des frühen 20. Jahrhunderts ist die soziohistorische Situation besonders. Die lokale Dichte an Wissenschafter*innen nimmt nach dem Zusammenbruch der Habsburg-Monarchie zu, die Spannung zwischen konservativen und liberalen Lagern wächst. Jüdische Intellektuelle, Andersdenkende und Wissenschafterinnen werden zunehmend an den Rand gedrängt. Sie haben das Bedürfnis nach intellektuellem Austausch, doch in universitären Strukturen fehlt der Raum dafür: Diskussionszirkel außerhalb der Uni erleben eine Blütezeit.

Die Lust am Widerspruch ist es meist, die ihre Teilnehmer*innen verbindet. Themen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und diskutieren steht auf der Tagesordnung, weiß Tilo Grenz. Er hat diese "kommunikativen Wissenskulturen" – die speziellen Formen des Austauschs in den Kreisen – gemeinsam mit Michaela Pfadenhauer und einem Team des Instituts für Soziologie der Uni Wien untersucht. "Diskussionszirkel waren für viele die einzige Möglichkeit, sich intellektuell zu betätigen", erklärt Grenz – da bedeutete auch eine gewisse Vorsicht in der Kommunikation.

Man hat sich "rausgewagt"#

Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Frage, wie die Kreise das Werk von Alfred Schütz, dem Begründer der phänomenologisch orientierten Soziologie, prägten. Schütz war ein "typischer Kreisgänger": Der Philosoph besuchte das Ludwig von Mises Privatseminar, den "Geistkreis" und den Zirkel um Hans Kelsen und präsentierte dort seine Thesen und Vorstellungen einem wechselnden Publikum.

"Das Bespielen dieser unterschiedlicher Bühnen war wichtig, um eine Geschmeidigkeit im Auftreten herzustellen, kommunikative Schlagfertigkeit zu proben und letztlich die Sozialwissenschaften voranzutreiben", erklärt Grenz. Nicht länger monokulturell, monothematisch oder monodisziplinär zu denken, so lautete die Devise – man habe sich tatsächlich "rausgewagt".

Alfred Schütz
Alfred Schütz
Foto: © CARP Center for Advanced Research in Phenomenology

Das Ludwig von Mises Privatseminar war strikt geplant, es gab eine Agenda mit Schwerpunkten, Manuskripte, Notizen. Einem Vortrag folgten oft Diskussions-Sitzungen – "der Umgangston blieb stets höflich", so Grenz. Mises wählte die Teilnehmer*innen selbst aus: darunter auch sehr aktive Frauen. Eher schroff ging es im Geistkreis zu, gegründet in den frühen 1920ern von Friedrich Hayek und Herbert Furth und eigentlich ein Freundeskreis. Frauen waren ausgeschlossen, da man Spannungen befürchtete. Im Vordergrund stand "Grundlegendes von allgemeinem Interesse", z.B. referierte Alfred Schütz (im Bild) über "den Witz". Das Privatseminar von Hans Kelsen hatte großen Einfluss auf die Entwicklung seiner "Reinen Rechtslehre".

Kontroversen überbrücken#

Zeugnis seiner Besuche ist Schütz' 1932 erschienenes Werk "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt", in dem der Autor Positionen miteinander verbindet, die bis dato nicht zusammen gedacht wurden. Zum Beispiel vertrat Mises die Ansicht, dass menschliches Handeln durch universalgeschichtliche Prinzipien bestimmt ist: "Menschen kalkulieren demnach Kosten und Nutzen und handeln immer ähnlich", erklärt Grenz. Dem entgegen steht Max Weber, der meint, der Mensch folgt einer sinnhaften Deutung seines Alltags. "Schütz nimmt sich in seinem Werk der Überbrückung dieser Kontroverse zwischen der sogenannten apriorischen Maxime und der historisch veränderbaren Maxime des Handelns an", erklärt der Soziologe.

Pfadenhauer Michaela
Pfadenhauer Michaela
Foto: © Barbara Mair

Geforscht haben Grenz, Pfadenhauer (im Bild) und ihr Team mit drei Arten von Daten: den Werken von Alfred Schütz und weiterer Kreisteilnehmer*innen, autobiografischen Texten und Briefen, sowie prozessorientierten Daten, wie Vortragsmanuskripten oder Gesprächsnotizen, die während der Treffen entstanden. "Wir haben gemerkt, wie wichtig der Medienwechsel war", so Grenz: "In Briefwechseln oder hitzigen Kaffeehausdiskussionen nach den Seminaren wurde Kritik oft deutlicher geäußert." (© Barbara Mair)

Sprengkraft durch Marginalisierung#

Ludwig von Mises
Ludwig von Mises
Foto: © Ludwig von Mises Institute

Die Kreise pendeln laut Grenz zwischen zwei Extremen kommunikativer Wissenskulturen. Das eine lässt sich als pluralistisch-symmetrisch bezeichnen: Man hat gemeinsame Begriffe erarbeitet und versucht, Erkenntnisse durch Diskussionen zu gewinnen. Wissenschaft und Politik wurden klar getrennt. Trotzdem hatte, wie bereits erwähnt, nicht jede*r Zugang zu den Kreisen: die Rekrutierungsmaßnahmen waren teils komplex. Das andere Extrem waren autoritäre Zirkel, wie der Kreis um Othmar Spann: Der Verfechter des "Ständestaates" wurde später zu den geistigen Wegbereitern des Austrofaschismus gerechnet. Er selbst war die zentrale Figur, der die "Heilslehre" verkündete.

Es könne von einer "Antisoziologie" um Mises (im Bild) und Co. gesprochen werden, die sich gegen eine Ganzheitslehre wie bei Othmar Spann, mit fast religiösen Aspekten, richtete. "Frauen und jüdische Intellektuelle hatten damals verstärkt mit Anfeindungen zu kämpfen, weil sie weiblich oder jüdisch waren. Das waren aber nicht die einzigen Gründe für die Marginalisierung von Kreisteilnehmer*innen" erklärt Grenz: "Sie vertraten schlicht eine andere Idee von Wissenschaft." Insofern lag in ihrer Außenseiterrolle eine große Sprengkraft. (© Ludwig von Mises Institute)

Die von Grenz und Kolleg*innen vorangetriebene Erforschung der Wiener Kreise hilft zu verstehen, unter welchen sozialen, räumlichen und materiellen Bedingungen Wissen diskursiv hergestellt und legitimiert wurde. Die Zirkel hatten einen erheblichen Anteil an der Entwicklung von Alfred Schütz' Soziologie, denn hier formte sich sein dialogisch orientiertes Denken. Er lernte, eine Vielzahl von Perspektiven zuzulassen und so auf Prozesse von Wahrheitsfindung zu setzen, die sich stetig weiterentwickeln – eine demokratische Form der Soziologie. (sn)