Tinnitus und das „vorausschauende“ Gehör#
Wie wirken sich unsere Hör-Erwartungen auf unsere Wahrnehmung aus? Salzburger Neurowissenschaftler konnten als erste in einer Studie mit Probanden zeigen, dass erwartete Töne sich in merkmalspezifischen Gehirnaktivitätsmustern niederschlagen. Die Studie wurde im hochrangigen Journal Nature Communications veröffentlicht.#
Mit ihren Arbeiten haben die Forscher methodisch die Tür weit geöffnet, um individuelle Vorhersageprozesse bei Hör-Erlebnissen zu untersuchen. Diese könnten auch einen Erklärungsansatz für die Entstehung von Tinnitus bilden. Laufende Arbeiten der Salzburger Gruppe deuten auf dramatisch veränderte Vorhersageprozesse bei Personen mit Tinnitus hin.
Menschen müssen ihr Verhalten ständig an komplexe Umgebungen anpassen. Eine fundamentale Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit des Gehirns, aus der Erfahrung auf Zukünftiges zu schließen, auch beim Hören. „Unser Gehirn ist darin spezialisiert, Regelmäßigkeiten im Reizstrom zu erkennen und es kann diese nutzen, um Ereignisse in seiner Umwelt vorherzusagen. Es extrahiert sozusagen die Regeln die zum Beispiel hinter bestimmten Tonsequenzen stehen. Wobei die Vorhersagen keine willentlichen Handlungen darstellen, sondern ein automatischer Prozess sind“, sagt der Erstautor und Neurowissenschaftler Gianpaolo Demarchi vom Centre for Cognitive Neuroscience (CCNS) der Universität Salzburg.
Demarchi und sein Team wollten herausfinden, ob das Gehirn bei immer regelmäßigerer Darbietung von Tönen mit merkmalspezifischen Aktivitätsmustern reagiert, also dass es etwa auf eine erwartete Tonhöhe X mit einem anderen neuronalen Muster reagiert als auf eine erwartete Tonhöhe Y. Dafür erstellten die Forscher Sequenzen aus vier Tönen unterschiedlicher Tonhöhe. In jeder Sequenz war die Tonhöhe eines Tons mit einer definierten Wahrscheinlichkeit vom vorangegangen Ton abhängig. Das Ergebnis waren Sequenzen in der die Tonhöhe eines bestimmten Tons mehr oder weniger vorhersagbar war. Dadurch, dass die Töne mit genau 333 Millisekunden Abstand dargeboten wurden, war die zeitliche Erwartung in allen Tonsequenzen gleich. Es änderte sich ausschließlich die zu erwartende Darbietung eines Tons mit einer spezifischen Tonhöhe zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Diese Tonsequenzen wurden 33 gesunden Probanden (Durchschnittsalter 27 Jahre) dargeboten, während sie einen eineinhalb Stunden langen stummgeschalteten Film schauten. Die Probanden mussten währenddessen keine Aufgaben lösen. Es wurde lediglich ihre Gehirnaktivität mittels Magnetoenzephalographie (MEG) erfasst. MEG ist eine zeitlich hochauflösende Methode, mit der die magnetischen Felder gemessen werden können, die von den elektrischen Strömen im Gehirn erzeugt werden.
Zunächst trainierten die Forscher Algorithmen, um die unterschiedlichen Tonhöhen anhand der neuronalen Aktivitätsmuster zu unterscheiden. Diese trainierten „Mustererkenner“ wurden anschließend angewendet, um tonhöhenspezifische neuronale Aktivitätsmuster im Zeitraum rund um der Darbietung eines Tons zu messen.
„Schon ungefähr 300 Millisekunden vor dem erwarteten Zeitpunkt der Tondarbietung waren tonhöhenspezifische neuronale Muster stärker aktiviert, und zwar umso stärker je regelmäßiger die Tonsequenz war“, fasst Demarchi das Kernergebnis zusammen.
Auch in den Fällen, in denen Töne ausgelassen wurden, beobachteten die Forscher die tonhöhenspezifische neuronale Aktivität des - nicht dargebotenen aber - erwarteten Tons. „Es traten die gleichen Muster auf wie wenn wir einen Ton dargeboten hätten. Die Aktivierung war sogar noch stärker als beim tatsächlich dargebotenen Ton; das Hirn „suchte“ quasi den Ton,“ sagt Demarchi.
Mit der Studie haben die Forscher zwei Ziele erreicht. Einerseits konnten sie damit eindrucksvoll den hohen Stellenwert von Vorhersagen beim auditorischen Wahrnehmungsprozess bestätigen. Andererseits ist dieses Paradigma ein Türöffner, mit dem sich interindividuelle Unterschiede der Vorhersageprozesse beim Hören untersuchen lassen, was u.a. für die Tinnitusforschung von großer Relevanz sein könnte, sagt Projektleiter Nathan Weisz. Der Professor für Physiologische Psychologie ist Leiter der Auditory Neuroscience Group am Center for Cognitiive Neuroscience (CCNS) der Universität Salzburg. „Manche Menschen haben eine stark ausgeprägte Fähigkeit, Regelmäßigkeiten zu erkennen und diese für Vorhersagen zu nutzen. Das kann in schwierigen Hörsituationen ein Vorteil sein, zum Beispiel bei starkem Hintergrundlärm. Eine Schattenseite stark ausgeprägter Vorhersageprozesse beim Hören könnte aber sein, dass die betroffenen Menschen eine Disposition haben, nach einer Hörschädigung Tinnitus auszubilden.“
In der Tat deuten laufende Arbeiten der Auditory Neuroscience Group auf dramatisch veränderte Vorhersageprozesse bei Personen mit Tinnitus hin, sagt Weisz, dessen zentrales Forschungsinteresse dem Tinnitus gilt. „Nicht jede Person, die eine Hörschädigung erleidet, erlebt Tinnitus und nicht jede Person, die akuten Tinnitus hat, bildet diesen Zustand chronisch aus. Mit unserer Forschung haben wir möglicherweise einen Erklärungsansatz dafür gefunden, was die Unterschiede zwischen den Individuen bedingt.“
Publikation:#
Gianpaolo Demarchi, Gaetan Sanchez, Nathan Weisz: Automatic and feature-specific prediction-related neural activity in the human auditory system” in: Nature Communications 10, Article number: 3440 (2019) - https://www.nature.com/articles/s41467-019-11440-1
Kontakt:#
Ass.-Prof. Dr. Gianpaolo DemarchiFachbereich Psychologie
Center for Cognitive Neuroscience
Universität Salzburg
Hellbrunnerstraße 34
5020 Salzburg
Tel. +43 (0)662 8044-5135
Email: gianpaolo.demarchi(at)sbg.ac.at
https://braindynamics.sbg.ac.at
Nathan Weisz
Prof. of Physiological Psychology & MEG Lab Coordinator
Centre for Cognitive Neuroscience,
PI of Auditory Neuroscience Group
@Salzburg Brain Dynamics Lab
Universität Salzburg
Hellbrunnerstraße 34
5020 Salzburg
Tel. +43 (0)662 8044-5120
Email: nathan.weisz(at)sbg.ac.at
https://braindynamics.sbg.ac.at