Europa eine Seele geben#
„Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben." Jacques Delors
Europa eine Seele geben - Was kann damit gemeint sein?#
Wie viele bestimmende Gedanken in unserer Ideenwelt ist auch die Aufforderung „Europa eine Seele geben" schwer bis zu ihren Wurzeln zurückzuverfolgen. Sie wird immer mit dem französischen Politiker Jacques Delors - für zehn Jahre ein erfolgreicher Präsident der Kommission der Europäischen Union - in Verbindung gebracht. Er soll diese Aufforderung Anfang der 1990er-Jahre ins Gespräch gebracht haben.
Was genau er aber gesagt hat, ist nicht so leicht festzustellen. Denn die Geburt der europäischen Seele fand in einem Gespräch statt, von dem es eigentlich nur verschiedene Gesprächsnotizen gibt. Das Gespräch am 4. Februar 1992 führte Delors mit Kirchenvertretern, führend dabei der leitende Bischof der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), Klaus Engelhardt. Dabei sagte Delors laut Newsletter 2/1992 der EECCS (European Ecumenical Commission for Church and Society), deren Vertreter beim Gespräch anwesend war:
"We are in effect at a crossroads in the history of European construction. 1992 is a turning point. Even if on the surface of the sea nothing is yet visible, deep down the currents are beginning to change direction. The Maastricht summit marked the end ofthe economic phase of European construction - what has been described as the 'semi-automatic' development of the EC, based on the drive towards the Common Market. (...) We are now entering a fascinating time -perhaps especially for the young generation - a time when the debate on the meaning of European construction becomes a major political factor. Believe me, we won 't succeed with Europe solely on the basis of legal expertise or economic know-how. It is impossible to put the potential of Maastricht into practice withouta breath of air. If in the next ten years we haven't managed to give a soul to Europe, to give a spirituality and meaning, the game will be up. (...) This is why I want to revive the intellectual and spiritual debate on Europe. Invite the Churches to participate actively in it. We don 't want to control it; it is a democratic discussion, not to be monopolized by technocrats. I would like to create a meetingplace, a space for free discussion open to men and women of spirituality, to believers and non-believers, scientists and artists. We are working on the idea already. We must find a way of involving the Churches."
Kürzer und weniger theatralisch liest sich dies in der „Summary of Addresses by President Delors to the Churches", herausgegeben von der Commission of the European Communities am 14. Mai 1992 (Nr. 704E/92):
"If in the ten years ahead of us we do not succeed in giving Europe its soul, a spiritual dimension, true significance, then we will have been wasting our time. That is the lesson of my experience. Europe cannot live by legal arguments and economic know-how alone. The potential of the Maastricht Treaty will not be realized without some form of inspiration"
Man könnte dies als offizielle Geburtsstunde der „europäischen Seele" annehmen ... Es gibt jedoch auch Anzeichen, dass der Begriff von Delors schon früher verwendet wurde.
Wer sich der Wurzeln der Grundhaltung von Jacques Delors bewusst ist, den wundert einerseits die starke christliche Orientierung des Gedenkens nicht. Andererseits ist aber auch der Ausdruck bereits so allgemein geworden, dass er eine allein konfessionelle Orientierung nicht verträgt. Der Sprachgebrauch des Wortes „Seele" ist längst ein allgemeiner. Wir haben uns daran gewöhnt, vom Seelenleid zu reden oder uns beseelt zu fühlen, „des Volkes Seele" ist ein allgemeiner, manchmal bis hin zum Gefährlichen gebrauchter Ausdruck. Dabei hat sich die Verbindung der Seele mit dem Menschen begrifflich längst gelöst und wird auch als ein Ausdruck gebraucht, der einen inneren Gesamtzustand einer Gemeinschaft, eines Landes oder einer sonst wie verfassten gesellschaftlichen Einrichtung beschreibt. Man kann ruhig darüber meditieren, wie von der Philosophie eingeführte und von umfassenden Organisationen wie der Kirche gebrauchte Ausdrücke eine allgemeine Relevanz erhalten. Man könnte nun von einer Verflachung unserer Begriffswelt reden. In der Tat werden aber die tieferen Dimensionen unseres Zustandes in der geistigen Befindlichkeit deutlich.
Bedeutung der Seele#
Ein kleiner Exkurs zur Seele ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei gewagt. In Wikipedia als allgemein zugänglichem Orientierungsinstrument findet sich in der Begriffsklärung für Seele unter anderem: „allgemeines charakteristisches Merkmal vom Menschen oder anderen belebten Wesen, im übertragenen Sinn ein Synonym für Mensch oder Einwohner (Ein Dorf von 100 Seelen)"; dann folgen aber bereits relativ rasch technische Erklärungen, die den allgemeinen Charakter des Begriffes exemplifizieren. Der Bedeutungswandel des Begriffes Seele kommt im philosophischen Kontext deutlich zum Ausdruck. Der Begriff, im Griechischen „Psyche" oder auch „Pneuma", in der lateinischen Welt „Anima" genannt, wird heute abhängig vom Kontext in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Sowohl im angloamerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum versteht sich der Begriff vor allem als religiöse Vorstellung. Die Seele ist von Gott geschenkt und lebt nach dem Tod weiter. Die Nachbarschaft zur Psyche, aber auch zum Geist ist durch Jahrhunderte geläufig geworden. Im Umgangssprachlichen bezeichnet man Psychologen, mehr noch Psychiater, als „Seelendoktoren". Das wahrscheinlich herausragende Faszinosum besteht in der bereits früh von Philosophen vertretenen Ansicht der „Unsterblichkeit" der Seele. Piaton, Descartes sowie Thomas von Aquin waren die herausragenden Vertreter dieser Schule. Für Aristoteles bedeutet Psychologie die Untersuchung der Seele. Er definiert die Seele als „Funktionsweise eines Körpers, die so organisiert ist, dass sie Träger vitaler Funktionen sein kann".
Vereinfacht gesagt: lebendig zu sein heißt, beseelt zu sein. Gerade bei Aristoteles findet sich der meines Erachtens wesentliche Ansatz, dass wir durch das Denken beseelt und damit im weitesten Sinne des Wortes politisch sind.
Es blieb dem Christentum vorbehalten, die Seele quasi zu verselbstständigen. Sie ist wohl im Menschen zu Hause, geht aber nach dessen Tod zu Gott zurück. Die Philosophie Europas hat sich durchgehend damit auseinandergesetzt, wobei die verschiedensten Variationen (etwa Schopenhauer, Kant etc.) jener Auseinandersetzung gleichen, mit der Johann Wolfgang Goethe seinen „Faust I." beginnt. Die Suche nach eben dieser Seele wird durch die Suche nach der Wahrheit ausgedrückt. Goethe verwendet dazu den Beginn des Johannes-Evangeliums, wobei der Begriff des „Logos" in der deutschen Übersetzung mit „Wort" ganz sicher zu flach gediehen ist. Faust variiert diese Begrifflichkeit vor allem auch im Inhaltlichen, wobei er am Schluss zu dem Ergebnis kommt, „dass wir nichts wissen können".
Eine besondere Prägung hat Europa ganz sicher durch das jüdisch-christliche Religionsverständnis erhalten. Gott bläst im ersten Buch Moses, der Genesis, dem Menschen den Lebensodem in den Körper. Das hat zunächst mit der Seele im griechischen Sinn und mit der Unsterblichkeit nichts zu tun, es spiegelt die jüdische Religionsauffassung betreffend die Auferstehung wider. Im Alten Testament wird der entsprechende Ausdruck dafür verwendet, das Verlangen des Menschen nach seinem „vitalen Selbst" zu spiegeln. Vereinfacht gesagt: „Meine Seele" steht für „mein Leben" (zum Beispiel in den Psalmen). Die Leib-Seele-Auffassung der christlichen Welt ist dem Alten Testament völlig fremd, eine substanzielle Änderung hat das Christentum - mit Nachwirkung auch für unser heutiges Verständnis - verursacht. Die Vorstellung einer „Seele" als Identitätsträger des Menschen gegenüber einem damit verbundenen Körper findet sich schon im Matthäus-Evangelium. Es ist offensichtlich der Einfluss der griechischen Philosophie, der diese Veränderung herbeigeführt hat. Die unsterbliche Seele wird der bleibende Identitätsträger in den biblischen Religionen, wobei Orthodoxie und katholisches Christentum dem hier am strengsten folgen, während der Protestantismus sich auch den Tod der Seele mit dem Leib vorstellen kann. Die katholische Kirche hat mit der Taufe eine strikte Lehre entwickelt, wonach alle Seelen, die den Glauben nicht annehmen, verloren wären - eine Ansicht, die die Kirche von heute überwunden hat. Bleibend war allerdings Thomas von Aquin mit der von ihm formulierten Einheit von Leib und Seele („anima forma corporis").
Aus all dem kann man entnehmen, welchen Wandel der Begriff der Seele durchgemacht hat, wie prägend er aber auch gleichzeitig ist. Die Auseinandersetzung der abendländischen Philosophie mit dem Leib-Seele-Problem ist grenzenlos, die Befassung mit der Seele in vielen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Psychologie, der Psychoanalyse, der Verhaltensforschung, den Kognitionswissenschaften, den Neurowissenschaften, der Anthropologie und der Endokrinologie verankert. Auch die Biologie hat sich damit herumgeschlagen, wenngleich sie natürlich infolge ihres positivistischen Ausgangspunktes ihre Probleme damit hat.
Was hat das alles mit Europa zu tun? Es leuchtet die Multi-Dimensionalität des Ausdrucks aus, den Jacques Delors hier eingeführt hat und der offensichtlich so stark ist, dass er viele Sehnsüchte der Menschen anspricht, sonst hätte sich diese Nachfrage nach der Seele Europas nicht gehalten. Jacques Delors war wahrscheinlich nach der Gründergeneration der heutigen EU die stärkste Figur an der Spitze der Europäischen Kommission. Geboren am 20. Juli 1925 in Paris, Politiker der Sozialistischen Partei Frankreichs (SFIO), war er zwei Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament, drei Jahre französischer Wirtschafts- und Finanzminister und für zehn Jahre ein prägender Präsident der EG-Kommission (1985-1995)-Die europäische Integration machte in seiner Zeit große Fortschritte. So wurde die Einheitliche Europäische Akte verabschiedet, mit der die Römischen Verträge reformiert und die Grundlagen für die Vollendung des Binnenmarktes gelegt wurden; der nach ihm benannte Delors-Plan ist nach wie vor die Grundlage der Europäischen Währungsunion. Diese Fakten stehen für die Geschichtsschreibung fest. Bislang weniger untersucht wurde, dass in der Europäischen Kommission eine unter seiner Leitung geschaffene Einheit bestand, die sich die Untersuchung der Frage nach dem „geistigen" Inhalt Europas zum Ziel gesetzt hat. Delors hat seinen Ausgangspunkt und seine Prägung in der Jugend von der katholischen Kirche Frankreichs erhalten, die in wesentlichen Teilen immer eine starke Spiritualität hatte. Der „renouveau catholique" (eine spirituelle und literarische Bewegung zur inhaltlichen Erneuerung der Kirche) hatte weit über Frankreich hinausgehende Wirkungen, wobei allerdings angemerkt werden muss, dass die katholische Kirche des Landes auch sehr konservative Positionen vertrat, rund um den Zweiten Weltkrieg bisweilen in nicht immer erfreulicher Weise. Offensichtlich aufgrund der Bedeutung, die Delors dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung zugeschrieben hat, ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass durch diese ungeheuren Fortschritte auch ein Defizit geschaffen wurde.
Europas Grundlagen#
Was ist unter der Wendung „Eine Seele für Europa" zu verstehen? Hat Europa eine Seele? Im philosophischen Sinn nein, im Sinne der Empfindung für ein gemeinschaftliches Europa wohl ja. Oder war gemeint, eine Seele für Europa zu schaffen? Hier wird die inhaltliche Bedeutung der Seele eine ganz entscheidende Rolle spielen, weil Delors offensichtlich mehr wollte als eine Definition, eine philosophisch-wissenschaftliche Beschreibung oder gar eine kulturgeschichtliche Darstellung. Für den Politiker war das wohl die Suche nach dem Inhalt dieses einmaligen Werkes. Wir dürfen nie vergessen, dass eine größere Einheit in früheren Geschichtsepochen durch den Machtwillen eines Landes, einer Gruppe von Menschen, aber auch einer Idee geschaffen wurde. Die Monarchien des alten Europa hatten das „Gottesgnadentum", das ihnen das Recht verlieh, Entscheidungen zu treffen und mehr Macht anzuhäufen. Der klassische Kampf zwischen Kaiser und Papst, der weite Strecken des Mittelalters beherrschte, war von der Zwei-Schwerter-Theorie getragen, wem nämlich Gott die Macht über das Leben auf dieser Welt, aber auch im Geistigen anvertraut hat. Die Einigung Europas hat eine neue Qualität, weil sie nicht allein auf der staatlichen Ebene greift, sondern auch versucht, die Gemeinsamkeit des Geistig-Kulturellen mit seinen Auswirkungen auf die Politik zu definieren.
Jacques Delors verband mit Europa wohl primär die Erfahrung eines Defizits. Wirtschaft allein wird das Projekt der europäischen Integration nicht vollenden. Offensichtlich erlebt man gerade an der Spitze der Europäischen Kommission auch die Grenzen der Möglichkeiten, wie ein Zitat des gegenwärtigen Präsidenten der Kommission, Jose Manuel Barroso, zum Ausdruck bringt:"In the hierarchy of values, culture ranks higher than economics. The economy is a necessity of life, but culture is whatmakes life worth living." (Berlin, Dezember 2004)
Hier ist gegenwärtig aber auch die Konfliktsituation innerhalb der Europäischen Union und unter den Europäern zu erkennen. Als Wirtschaftsprojekt war die Europäische Integration seit den 1950er-Jahren ein außerordentlicher Erfolg und hat dazu geführt, unseren Kontinent zum ökonomisch stärksten zu machen. Die Väter der europäischen Integration waren sich darüber im Klaren, dass es neben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) und eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) braucht. Letztere war 1954 an der schwächelnden Vierten Republik Frankreichs gescheitert, sodass die Methode „Jean Monnet" Platz gegriffen hat, nämlich Schritt um Schritt die Integration zu verwirklichen, und das in erster Linie im ökonomischen Bereich. Delors hat offensichtlich begriffen, dass mit seinen Maßnahmen, nämlich dem einheitlichen Wirtschaftsraum und der gemeinsamen Währung, die wirtschaftliche Seite ausgeschöpft ist und substanziell eine höhere Qualität des gemeinsamen Europa auf anderen Feldern erreicht werden muss.
Aus: Erhard Busek Eine Seele für Europa - Aufgaben für einen Kontinent - Kremair & Scheriau, Wien, 2008