Der Blick in den Abgrund #
15. Juli 1927, ein Tag, ein Wendepunkt: Nach dem Freispruch im Schattendorf-Prozess ging der Justizpalast in Flammen auf. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Kleinen Zeitung (Sonntag, 2. Juli 2017)
Von
Helmut Konrad
Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm“, schrieb Elias Canetti in „Die Fackel im Ohr“. Canetti, der 1905 in der kleinen Universitätsstadt Russe in Bulgarien geboren wurde, kam mit sieben Jahren nach Wien, wo er, nach Lebensabschnitten in der Schweiz und Deutschland, ab 1924 lebte.
Die Geschehnisse des 15. Juli 1927 prägten seine Hauptwerke. Mit seinen damals 22 Jahren war er in jene dramatischen Ereignisse geraten, die den entscheidenden Wendepunkt der Geschichte der Ersten Republik darstellten. Die „Masse“ und das „Feuer“ waren fortan Hauptmotive seiner Arbeit. In der „Blendung“ beschreibt er, die Ereignisse vom 15. Juli vor Augen, einen fiktiven Bibliotheksbrand: „Zehntausende von Büchern – das sind Millionen Seiten – Milliarden Buchstaben – jeder einzelne davon brennt – fleht, schreit, brüllt um Hilfe“.
Die bis heute „Brandakten“ genannten, halb verkohlten Dokumente aus den Beständen des Justizpalastes geben Zeugnis von den dramatischen Ereignissen und zeigen Teile des Ausmaßes von zerstörtem Kulturgut. Aber der Verlust an Menschenleben zählt noch ungleich mehr.
Um die Ereignisse des Juli 1927 verstehen zu können, bedarf es eines kurzen Blicks auf die Vorgeschichte. Der Friedensvertrag von Saint-Germain verpflichtete Österreich dazu, sein Heer auf 30.000 Mann zu reduzieren. Es gab daher viele militärisch geschulte Männer, viel Gewaltbereitschaft – das Gewaltmonopol lag nicht beim Staat – und harte politische Konfrontationen. Aus den regionalen Schutzverbänden vor allem am Land waren die Heimwehren entstanden und aus den Ordnern der Sozialdemokratie der Republikanische Schutzbund. Bis zu 180.000 Mann waren in diesen Verbänden paramilitärisch organisiert.
Die politischen Gegensätze waren groß, die politische Sprache der Zeit radikal. Die revolutionäre Phrase der Sozialdemokratie hatte zwar das Entstehen einer kommunistischen Bewegung weitgehend verhindert, trug aber nicht zur innenpolitischen Deeskalation bei. Im Parlament standen sich blendend formulierende, scharfzüngig und radikal argumentierende Persönlichkeiten gegenüber, die das Ihre dazu beitrugen, dass trotz manch konstruktiver Sacharbeit im Detail nach außen das Bild der Unversöhnlichkeit vermittelt wurde.
Die Straße war in diesen Jahren ein wesentlich bedeutsamerer Ort für das Herstellen von politischer Hegemonie als heute. Wohl gab es die Printmedien, aber das Dominieren im öffentlichen Raum hatte den entscheidenden Einfluss auf den politischen Diskurs. Daher zog man entweder mit der Fronleichnamsprozession oder man marschierte am 1. Mai. Daher waren Aufmärsche der uniformierten, paramilitärischen Einheiten auch zwischen diesen Festtagen so wichtig: Man zeigte Präsenz und Stärke, demonstrierte Entschlossenheit in der Auseinandersetzung der politischen Konzepte.
Zwischenfälle waren die logische Konsequenz. Fast jedes Jahr lag auf Österreichs Straßen jemand, der wegen seiner politischen Überzeugung erschlagen, erstochen oder erschossen worden war. Der 30. Jänner 1927 sollte in dieser Ereigniskette aber doch herausragen. Im kleinen burgenländischen Schattendorf, einem sozialdemokratisch dominierten Ort, hielten an diesem Tag die rechtsgerichteten Frontkämpfer eine Versammlung ab, die von den sozialdemokratischen Schutzbündlern mit einer Gegenveranstaltung beantwortet wurde. In zwei etwa 500 Meter entfernten Gasthäusern traf man sich, auf der Straße dominierte rasch die Linke. Als es zu Krawallen vor dem Gasthof Tscharmann, dem Treffpunkt der Frontkämpfer, kam, fielen Schüsse aus dem Gasthof, die unter den Linken den kroatischen Kriegsinvaliden Matthias Csmarits und das Kind Josef Grössing (aus dessen Familie der spätere Bundesminister Josef Ostermayer stammt) tödlich verletzten. Die drei Schützen wurden verhaftet.
Die Wogen gingen hoch, und über Wochen dominierten die unterschiedlichen Sichtweisen zu den Ereignissen die Presse. Bis heute ist eine medienhistorische Betrachtung lohnend, wie unlängst ein begabter Maturant aus Wien, Adam Leidenfrost, in einer bemerkenswerten vorwissenschaftlichen Arbeit deutlich gemacht hat. Es ging um die Deutungshoheit, die auch den folgenden Geschworenenprozess beeinflussen sollte. Der Prozess gegen die drei Angeklagten, Josef Tscharmann, Hieronymus Tscharmann und Johann Pinter, wurde als Geschworenenprozess geführt.
Die zwölf Geschworenen waren ein gutes Spiegelbild der Gesellschaft, vier davon waren Arbeiter, drei Beamte, eine Hausfrau, zwei Bauern und zwei Gewerbetreibende. Die Anklage umfasste Mordabsicht und absichtliche schwere Körperverletzung. Der Staatsanwalt plädierte auf schuldig, und die Mehrheit der Geschworenen folgte ihm auch, das Stimmenverhältnis hatte aber mit sieben Pro- und fünf Gegenstimmen nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. So hatte der Richter am 14. Juli 1927 den Freispruch der Angeklagten zu verkünden.
Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, verfasste für die Ausgabe des 15. Juli einen scharfen Artikel: „Die Mörder von Schattendorf freigesprochen!“ Die Formulierung, dass die Arbeiter sich das nicht werden gefallen lassen, wurde allerdings, wohl entgegen der Intuition der radikalen Phrase, wörtlich genommen. Die Direktion der Städtischen Elektrizitätswerke Wiens schaltete den Strom für die Straßenbahn ab, der öffentliche Verkehr war lahmgelegt. Eine große Gruppe von Arbeitern aus dem E-Werk marschierte zum Ring und versuchte, das Hauptgebäude der Universität zu stürmen. Die Demonstration schwoll an und wütende Menschen verwüsteten die Redaktion der „Wiener Neuesten Nachrichten“. Sicherheitskräfte riegelten das Parlamentsgebäude ab, und der Demonstrationszug bog nach Süden zum Platz vor dem Justizpalast ab.
Obwohl Angehörige des Republikanischen Schutzbundes versuchten, die Menge zu beruhigen, hatte sich die von Elias Canetti beschriebene Eigendynamik entfaltet. Zu Mittag gingen die Fensterscheiben im Parterre zu Bruch und Demonstranten drangen in das Gebäude ein. Um 12.28 Uhr ging der erste Notruf bei der Feuerwehr ein. Demonstranten hatten Akten und Mobiliar in Brand gesteckt, Rauch quoll aus den Fenstern.
Die Folgestunden verdichteten die Krisengeschichte der Ersten Republik in dramatischer Weise. Bis heute konnte man die Chronologie der Abläufe nicht mit Sicherheit feststellen, obwohl es ausreichend Fotos der Szenerie gibt. Da ein heißer Tag war und die Sonne schien, warfen Menschen, Pferde, Häuser und Bäume Schatten. Gerhard Botz, der Doyen der österreichischen Zeitgeschichte, stellte mit seinen Studierenden die Szenerien nach und versuchte, anhand der Schattenlänge zu genauen Datierungen zu kommen. „Der Schattenvermesser“, so nannte ihn vor zehn Jahren „Die Zeit“. Jeden 15. Juli treibt es ihn zum Justizpalast, wo er versucht, diese dramatische Geschichte von Masse und Feuer wenn schon nicht zu verstehen, so doch genau zu rekonstruieren. Inzwischen kann er die damals gemachten Fotos fast auf die Minute datieren. Aber auch das kann die innere Dynamik der Abläufe nicht wirklich erklären.
Die Feuerwehr, die nach dem Eintreffen des Notrufs ausgerückt war, konnte sich nur schwer durch die Menschenmassen durcharbeiten. Zudem wurde ihr Einsatz boykottiert. Immer wieder wurden Wasserschläuche durchtrennt. Demonstranten öffneten auch umliegende Hydranten, um den Wasserdruck zu verringern. Theodor Körner, der spätere Bundespräsident, versuchte, mit einer Ansprache die Menschenmassen zu beruhigen, was misslang. Es gelang ihm aber, die Wachebeamten des Justizpalastes in Sicherheit zu bringen, indem er sie als Verletzte getarnt mit Tragen aus dem Gebäude bringen ließ. Gegen 18 Uhr brannten fast 10.000 m2 Gebäudefläche. Die Akten des Innenministeriums, des Justizministeriums, des Ministerrats und der Gendarmerie aus der Zeit vor der Jahrhundertwende wurden ein Raub der Flammen. Das Chaos war perfekt.
Johannes Schober, der schon vorher kurz Bundeskanzler gewesen war und es auch 1929 wieder wurde, war zur Zeit der Ereignisse von 1927 Polizeipräsident. Da die Polizei nicht ausreichend gerüstet war, um gegen die Demonstranten anzukommen, forderte er den Einsatz des Bundesheeres an, was Bürgermeister Karl Seitz allerdings verweigerte. Schober rüstete im politischen Alleingang seine Polizei mit Waffen aus den Heeresbeständen aus. Die Gewehre in den Händen der großteils überforderten Polizisten sollten die Tragödie zum Siedepunkt bringen.
Als die ersten Schüsse fielen, liefen Menschen in Panik davon. Einzelne Polizisten schossen in panischer Überreaktion den Flüchtenden nach. Als es dunkel geworden war, lagen 89 Demonstranten und fünf Sicherheitsbeamte tot auf den Straßen rund um das Gebäude. Weit über 1000 Menschen waren zum Teil schwer verwundet. Das Feuer wurde in den frühen Morgenstunden des 16. Juli unter Kontrolle gebracht. Die Brandnarben blieben, auch die politischen. Die Republik war eine andere geworden. Bei dieser großen Zahl der Opfer fragte man sich nicht nur zeitnah, sondern auch in den neuen Jahrzehnten seither, ob und wie sich die Dynamik der Ereignisse durch die grundlegenden Strukturen der Ersten Republik oder auch die Handlungen konkreter Personen erklären lässt.
Strukturell kann der gesamte Zeitraum zwischen 1914 und 1945 durchaus als „Dreißigjähriger Krieg“ im 20. Jahrhundert gelesen werden. Von Irland über die Mongolei bis nach China wurden mit großer Heftigkeit Konflikte ausgetragen, allein in den ersten vier Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs gab es über vier Millionen Gewaltopfer. Auch bei uns ist die Kontinuität der Gewalt erkennbar, nach außen etwa im Kampf um die Grenzziehung in Kärnten, nach innen im Ringen um die Besetzung des öffentlichen Raums. Gewaltbereitschaft war die eine Seite, mangelndes Demokratieverständnis die andere. „Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel“, skandierte die Linke auf der Straße, und die Rechte wollte den „revolutionären Schutt“ aus den Jahren 1918/19 zur Seite räumen und träumte von autoritären Formen des Regierens.
Neben den Strukturen sind es aber immer Personen, die den Verlauf von Ereignissen prägen. Welche Rede hält man, welche Richtungsentscheidung gibt man vor? Theodor Körner, Karl Seitz, aber auch Verteidigungsminister Carl Vaugoin versuchten, in den dramatischen Stunden im Juli 1927 deeskalierend zu wirken. Für die politische Grundstimmung der Zeit stehen aber Ignaz Seipel und Otto Bauer, für die dramatische Konsequenz des Tages Johannes Schober. Ignaz Seipel, der Priester, Universitätsprofessor und christlichsoziale Vordenker, der zweimal als Bundeskanzler die Geschicke der Ersten Republik lenkte, war der scharfzüngige Vertreter der Regierungskoalition. Er stand für die Verbindung von Kirche und Politik.
Elf Tage nach den Juliereignissen formulierte er im Parlament: „Verlangen Sie nichts vom Parlament und von der Regierung, das den Opfern und den Schuldigen an den Unglückstagen gegenüber milde erscheint, aber grausam wäre gegenüber der verwundeten Republik.“ Das Etikett des „Prälaten ohne Milde“ blieb an ihm bis zu seinem Tod 1932 haften. Otto Bauer, der austromarxistische Vordenker und Theoretiker, Seipels Gegenspieler auf der Seite der linken Opposition (ein Verhältnis, das bei aller verbalen Schärfe von gegenseitiger Achtung gekennzeichnet war), hatte mit seiner oftmals radikalen Sprache zwar die Sozialdemokratie zur praktisch alleinigen Kraft links der Mitte gemacht. Der Preis dafür war das Auseinanderdriften von Wort und Handlung und ein großes Erschrecken, wenn Aussagen von der „Masse“ auf einmal wörtlich genommen wurden. Das galt letztlich auch für den Februar 1934, der Bauer ins Exil trieb, wo er 1938 verstarb.
Johannes Schober, der die Grenze zwischen Legislative und Exekutive in der Ersten Republik verwischte (er saß im Parlament, führte dreimal die Regierung und war gleichzeitig von 1918 bis zu seinem Tod im Jahr 1932 Polizeipräsident), war jene Person, die die Hauptverantwortung für den letztlich so dramatischen Ausgang der Ereignisse rund um den Justizpalastbrand zu verantworten hatte. Das Ausrüsten der Polizei mit den Gewehren des Bundesheeres und der Schießbefehl hatten das Blutbad zur Folge.
Karl Kraus, der bekannteste Intellektuelle jener Tage und 1927 auch noch auf einer Wellenlänge mit Elias Canetti, ließ in Wien nach den Ereignissen die Botschaft an Schober plakatieren: „Ich fordere Sie auf, abzutreten.“ Strukturen und Personen, vorgegebene Sachzwänge, ideologische Scheuklappen und individuelle (Fehl-)Entscheidungen – die Mischung führte zur Explosion. Die Fahrt in den Abgrund hatte dramatisch an Geschwindigkeit zugelegt.