Seite - 187 - in Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
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dezember 1900 187
125 Verdienst scheint gar nicht bei uns selbst, sondern draußen zu lie-
gen. Darum treten in den tiefsinnigen Märchen der Orientalen die
Menschen mit solcher Demuth auf, geängstigt fühlend, daß unsere
Absicht,unsereThatüberdasLebennichtsvermag,sondernesbeim
Schicksal ist,unsauszuzeichnenoderzuverwerfen.Daherauchdie
130 ganz andere Psychologie, die wir dort finden: um einen Menschen
zucharakterisiren,gebensienämlichnichtseineEigenschaftenoder
Wünsche oder Handlungen an, sondern erzählen uns, was sich mit
ihmbegebenhat, indemsiediesgleichsamfürdenSchattennehmen,
deneinMensch wirft, jenachdem Lichte,dasergeradehat.
135 Es scheint mir nun die eigentliche Bedeutung der Beatrice zu sein,
daß Schnitzler hier die Handlung nicht, wie sonst unsere Autoren
thun,ausdenCharakterenabzuleitensucht,abersieauchnichtdem
Zufall überläßt, sondern förmlich als zu den Charakteren gehörig,
als ihre Ergänzung in der äußeren Welt, als eine mit ihnen geborne
140 Bestimmungdarstellt,diewirzuihrenEigenschaftenhinzurechnen
müssen, um erst die Summe ihres Wesens zu erhalten. Wir fragen:
Wie ist dieser Mensch? Darauf antworten sonst unsere Autoren: er
sieht so und so aus, hat den und den Gang, die und die Stimme,
denkt so, fühlt so und handelt so. Schnitzler antwortet hier: es ist
145 ein Mensch, der das und das erlebt! Und seine ganz merkwürdige
Kunst zeigt sich nun darin, daß uns diese Antwort mehr sagt, als
alle Beschreibungen und Erklärungen könnten. Dies ist nicht neu –
man denke nur an Shakespeare. Aber die neuen Autoren hatten es
verloren. Ich denke: nachdem er es jetzt wiedergefunden hat, wird
150 esbaldüberall inderLiteraturzuspürensein.
DerDichterFilippoLoschiistmitderGräfinTeresinaFantuzziver-
lobt,derSchwester seinesFreundesAndrea. IneinerwildenStunde
wird er von seinen Sinnen so bethört, daß er sie, am Bette ihrer
sterbenden Mutter, mit gierigen Wünschen überfällt, mit heißen
155 Worten,»jedessoverruchtundwild,wiemansieMädchenzuraunt
in der Schänke«. Sie stößt ihn weg, er geht erzürnt, und wie er so
im Taumel vor die Stadt rennt, trifft er ein Mädchen, noch ganz
jung, kaum von den ersten Ahnungen der Lust berührt. Beatricen,
dieTochtereinesWappenschneiders.Erwirbtumsie,sieergibtsich
160 sogleich,undnunversinkendieBeidenundwissennichtsmehrund
habendieWeltvergessen.Bolognaistbedroht,Gerüchteschwirren,
derHerzog,derseiteinemJahrefort ist,seiermordet;Verrätherlau-
ern,undCesareBorgiarücktheran.DieBeidenaberachtenesnicht;
die Welt steht in Flammen – sie denken nur an sich. Da begibt es
165 sich,daß,alsderHerzogendlichwiederkehrtunddurchdieStraßen
reitet, er Beatricen sieht. Ihr ist schwül, sie geht auf ihre Stube und
schlummert ein. Es träumt ihr, Herzogin zu sein, und, erwachend,
tiefverwirrt,bekenntsiedemGeliebten,wieseltsamsüßesihrgewe-
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Buch Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931"
Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Titel
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Untertitel
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Herausgeber
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Abmessungen
- 14.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 1010
- Kategorien
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