Seite - 472 - in Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
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472 mai 1912
unddas letzteGeheimnisunseresLebens liegt.EineGesinnung,die
sich seit ein paar Jahren bei Schnitzler immer wieder meldet, sogar
60 im ›Einsamen Weg‹, seiner reichsten, so wunderbar tiefen und rei-
chen Dichtung. Eine Gesinnung, die auf mich – lieber Arthur, sei
nichtbös,aber:BekenntnisgegenBekenntnis–allmählichunerträg-
lich pensioniert wirkt. Eine Gesinnung, mit der sich auch Hebbel,
durch Österreich gebrochen, betrogen hat: Kraft oder Schönheit
65 gehört in unser Leben nicht, nimmt, wenn sie sich darin zeigt, eine
Schuld auf sich und muß sie tragisch büßen. Ich habe sonst meinen
Marxismus mit der Zeit recht bedingen gelernt, aber da muß ich
doch sagen: Dies scheint mir wirklich nichts als der geistige Aus-
druckeinersinkendenökonomischenKlassezusein,die,dasiesich
70 durch die Entwicklung unaufhaltsam zerrieben fühlt, jetzt einfach
aus dem Leben desertieren will. Durch unserei Geburt gehören wir
ihr an, deshalb wird sie aus unserer Empfindung niemals auszutil-
gensein,dieFrage istnur,obwirauchgeistiguns ihr fügenmüssen
odersiegeistigvielleichtüberwindendürfen,obnichtunsererGene-
75 rationgeradedazunurdieKunstgegebenwurde,dieKunstunddie
namenlose Sehnsucht, um durch sie das Leben selbst, dessen leere
Lügen wir nicht mehr ertragen, aus uns umzuformen. Das Leben
hält uns geistig nicht, was wir von ihm fordern. An unseren Gedan-
ken gemessen, ist es matt und dumpf. Und darum willst Du Dich
80 aus ihm stehlen, in den Winkel müßiger Entsagung? Weil es unse-
rem Geiste nicht gemäß ist, das soll mich bestimmen, es mit dem
Geiste der Väter zu versuchen? Wenn das Leben mir nicht gemäß
ist, wer sagt Dir denn, daß ich darum mich ändern muß, statt es?
Trauen wir uns so wenig zu? Haben wir uns denn schon mit ihm
85 gemessen? Wir wollen doch erst einmal sehen, wer stärker ist: wir
mitunsererfreudigenSehnsuchtnachderneuenFormeinerstarken,
durchauswahrhaften,leuchtendenExistenzininnererFreiheit,oder
dieses hinfälligen alten Lebens trister Widerstand! In Gedanken
still beiseite, sozusagen: auf dem anderen Ufer sein und höchstens
90 manchmal lächelnd herüberschauen, froh, daß man sich noch zur
rechtenZeitgeflüchtetunddavorgesicherthat,das scheint jetztoft
dermüdeWunschDeinerMenschen.AbersolcheGedanken,dienur
still,mitgesunkenenHänden,beiseitesitzenkönnen,sindmirnichts
undmichverlangtnachkühneren,diedieKrafthätten,dieFäustezu
95 ballenundinsLebenzustreckenundesnichtzulassen,bisesunsseg-
nenwird.IchdenkejetztsooftanDeinen›SchleierderBeatrice‹,an
die schaurig große Stimmung jener letzten Nacht, die den blutigen
Borgia schon vor den Toren weiß ... und morgen wird er kommen
und mit ihm kommt der Tod. Sind wir nicht selbst jetzt in solcher
100 NachteinerWelt,diemorgenversinkt?Aberdawollenwirdochdie
paar letztenStunden,bevorderBorgiakommt,endlicheinmalnicht
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Buch Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931"
Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Titel
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Untertitel
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Herausgeber
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Abmessungen
- 14.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 1010
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
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- 1902 222
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- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
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