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Der zweite
22. April 1901
Ich weiß nicht, auf was hin die Leute leben, das ist es, und je länger ich mich
unter ihnen bewege, um so weniger weiß ich es. Sie sind ernsthaft, sie sind
tüchtig, sie arbeiten, wie keine Nation auf der Welt, sie erreichen das
Unglaubliche – aber, es ist keine Freude, unter ihnen zu leben. Daß ich
achtzehn Jahre fort war und nun zurück bin und das hinschreiben muß! Irr ich
mich? Wie gern möchte ich mich irren! Ich verhandle und ich verkehre und
ich werde freundlich aufgenommen, und ich mache Diners mit, und ich werde
aufs Land eingeladen, und ich sehe alte Männer und junge Männer,
Hinaufgekommene und Leute von Familie, Männer in Ämtern und Männer
mit neuen riesigen Vermögen, Menschen, die noch viel vom Leben erwarten,
und Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen haben, und ich kann ihrer
nicht froh werden. Und ich werde so gern eines Menschen froh! Ich achte so
gern! Denke nicht, daß ich ihre Leistungen nicht achte, da müßte ich ein
Dummkopf sein. Aber sie selber, die Menschen – die deutschen Menschen!
Aber es geht mir unheimlich damit: ich bekomme sie nicht zu fassen. Nicht,
als ob sie verschlossen wären oder hinterhältig, davon hab ich unter südlichen
Breiten ganz andere Beispiele erlebt – aber wenn auch: ein verschlossenes
Gesicht und ein tückisches Gesicht reden auch ihre Sprache, und daran, daß er
sich nicht fassen lassen will, daran faß ich eben einen solchen. Aber hier –
hier ist nichts von Verstellung, nichts von Absicht, und darum um so
schlimmer. Wo soll ich eines Menschen Wesen suchen, wenn nicht in seinem
Gesicht, in seiner Rede, in seinen Gebärden? Meiner Seel, in ihren
Gesichtern, ihren Gebärden, ihren Reden finde ich die gegenwärtigen
Deutschen nicht. Wie selten begegnet mir ein Gesicht, das eine starke,
entschiedene Sprache redet. So verwischt sind die meisten Gesichter, so ohne
Freiheit, so vielerlei steht darauf geschrieben, und alles ohne Bestimmtheit,
ohne Größe. Es geschieht mir manchmal, daß ich mir das Gesicht eines
indianischen Halbbluts herbeiwünsche oder das Gesicht eines chinesischen
Lastträgers. Neulich hatte ich, einer schwebenden Sache wegen,
Empfehlungen an den Ersten Präsidenten eines der obersten Gerichtshöfe.
Der alte Herr war gütig und gesprächig, aber die Schwächlichkeit seines
nervösen alten Gesichtes und ein Etwas von weltmännischer Ironie in seinem
Ton, als wollte er zeigen, daß er kein Pedant wäre, vexierte mich so, daß ich
ihm kaum ordentlich Antwort gab. Mir geht letzter Zeit das englische Wort
nicht aus dem Kopf, mit dem sie ihren alten Gladstone ehrten. Grand old
man! Und ein Richter, ein oberster Richter unter den Deutschen! Meine
Träume! Ich möchte einem begegnen, der jeder Zoll ein alter oberster Richter
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Die Briefe des Zurückgekehrten
- Title
- Die Briefe des Zurückgekehrten
- Author
- Hugo von Hofmannsthal
- Location
- Berlin
- Date
- 1907
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 27
- Keywords
- Briefnovelle
- Categories
- Weiteres Belletristik