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Der dritte
9. Mai 1901
Denke nicht, daß ich ihre Leistungen nicht achte. Aber daß die Deutschen
arbeiten, davon ist die Welt voll: Da ich heimkam, dachte ich zu sehen, wie
sie leben. Und ich bin da, und wie sie leben, sehe ich nicht; und ich sehe, wie
sie leben, und es freut mich nicht. Sie sind reich und sie sind arm und du
stößest dich an den Armen und den Reichen und nicht das eine und nicht das
andere gibt einen reinen Klang. Es gibt Vornehme und es gibt Subalterne, es
gibt Anmaßende und es gibt Demütige, es gibt Gelehrte und es gibt, die vom
gestrigen Zeitungsblatt leben; und die einen puffen, die andern ducken sich,
die einen dünken sich was, die andern genieren sich: aber es gibt alles keinen
reinen Klang. Sie haben ein Oben und Unten, ein Besser und Schlechter, ein
Gröber und Feiner, ein Rechts und Links, ein Füreinander und
Gegeneinander, und bürgerliche Verhältnisse und adelige Verhältnisse und
Universitätskreise und Finanzkreise: aber was in dem allen fehlt, ist eine
wahre Dichtigkeit der Verhältnisse: es hakt nichts ins andere ein – es ist
irgend etwas nicht drin, wofür ich Dir den Kunstausdruck nicht zu finden
weiß, was aber doch im englischen Wesen drin ist, so grandios und vielfältig
es ist, und im Maoriwesen drin ist, so kindisch und kunstlos dieses ist: das
Gemeinschaftbildende, all das Ursprüngliche davon, das was im Herzen sitzt.
Freilich – vielleicht irre ich – das sage ich mir immer –, vielleicht ist es mit
diesen Dingen wie mit einem Vexierschloß: vielleicht muß man, um dieser
vielgespaltenen Welt gerecht zu sein, eine innere Vorbereitung besitzen, eine
Bildung. Und Bildung, im europäischen, im heutigen Sinne, habe ich nicht –
aber dennoch gerade in diesen Dingen, da stellt sich mir aus dem wenigen,
was ich je gelernt habe, was mir da und dort hängengeblieben ist, im Innern
immer etwas auf, um was ich nicht herumkam: wie sie, sterbende Männer und
Jünglinge – in den lateinischen und griechischen Büchern, Bruchstücken von
Büchern, die man uns Schulbuben zu lesen gibt –, in ihrem Blut, am Abend
der Schlacht, den Namen der Vaterstadt vor sich hin riefen, in Triumph und
Todesfestigkeit an dem Klang sich weideten: Argos meminisse juvabat –
woher ist der Brocken? Was hat dies alles mit dieser Welt zu tun, mit hier, mit
heute, mit mir? und dennoch, dennoch: sosagte ich: »Deutschland!« vor mich
hin – nicht das Wort vielleicht, aber die Seele des Worts! So sagte ich
»Deutschland!« vor mich, solange ich ferne von Deutschland war. Und dann:
da hatte mein seliger Vater in Gebhartsstetten eine Mappe mit Kupferstichen
des Albrecht Dürer. Wie oft zeigte er uns das, mir und meiner Schwester und
meinem Bruder, die beide so früh starben. Wie vertraut und fremd zugleich
waren mir die alten Blätter, wie zuwider und wie lieb zugleich! Die
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Die Briefe des Zurückgekehrten
- Title
- Die Briefe des Zurückgekehrten
- Author
- Hugo von Hofmannsthal
- Location
- Berlin
- Date
- 1907
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 27
- Keywords
- Briefnovelle
- Categories
- Weiteres Belletristik