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Der fünfte
Mai 1901
Was ich Dir schrieb, wirst Du kaum verstehen können, am wenigsten, wie
mich diese Bilder so bewegen konnten. Es wird Dir wie eine Schrulle
vorkommen, wie ein Vereinzeltes, wie eine Sonderbarkeit, und doch – wenn
man es nur hinstellen könnte, wenn man es nur aus sich herausreißen könnte
und ins Licht bringen. Es ist etwas dergleichen in mir. Die Farben der Dinge
haben zu seltsamen Stunden eine Gewalt über mich. Aber was sind eigentlich
Farben? Hätte ich nicht ebensogut sagen mögen: die Gestalt der Dinge, oder
die Sprache des Lichtes und der Finsternis, oder ich weiß nicht welches
Unbenannte? Und Stunden – welche sind diese Stunden? Es verstreichen
Jahre, und ihrer kommt keine. – Und ist es nicht kindisch, Dir anzuvertrauen,
daß ein Mächtiges, das ich nicht kenne, zuweilen mächtig wird über mich?
Wenn ichs fassen könnte, nicht fassen – denn es faßt mich – aber halten, da es
wieder schwindet. Aber schwindets? Hat es nicht seine heimliche bildende
Kraft in mir, irgendwo, wohin ein innerer steter Schlaf mir selber den Weg
verschließt? Und nun, da ich einmal gesprochen habe, treibt es mich, auch
mehr davon zu sprechen. Es schwebt mir um diese Dinge etwas mir selber
Unerklärliches, etwas wie Liebe – kann es Liebe geben zum Gestaltlosen,
zum Wesenlosen? Aber doch, und ja, und doch: damit Du nicht geringdenkst
von dem, was ich nun einmal geschrieben, schreibe ich mehr, und da ich zu
verstehen suche, was mich da treibt, so ist es, als müßte ich verhindern, daß
Du mit Geringschätzung an etwas dächtest – das mir teuer ist.
Hast Du je den Namen Rama Krishna gehört? Es ist ganz gleich. Es war ein
Brahmane, ein Büßer, einer von den großen indischen Heiligen, der letzten
einer, denn er ist erst in den Achtziger Jahren gestorben, und als ich nach
Asien kam, war sein Name noch überall lebendig. Ich weiß manches aus
seinem Leben, aber nichts, was mir näherginge als die kurze Erzählung
darüber, wie seine Erleuchtung, oder seine Erweckung, vor sich ging, kurz,
das Erlebnis, das ihn aus den Menschen aussonderte und einen Heiligen aus
ihm machte. Es war nichts als dies: Er ging über Land, zwischen Feldern hin,
ein Knabe von sechzehn Jahren, und hob den Blick gegen den Himmel und
sah einen Zug weißer Reiher in großer Höhe quer über den Himmel gehen:
und nichts als dies, nichts als das Weiß der lebendigen Flügelschlagenden
unter dem blauen Himmel, nichts als diese zwei Farben gegeneinander, dies
ewig Unnennbare, drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was
verbunden war, und verband, was gelöst war, daß er zusammenfiel wie tot,
und als er wieder aufstand, war er nicht mehr derselbe, der hingestürzt war. Es
war ein englischer Geistlicher von der gewöhnlicheren Sorte, der mir davon
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Die Briefe des Zurückgekehrten
- Title
- Die Briefe des Zurückgekehrten
- Author
- Hugo von Hofmannsthal
- Location
- Berlin
- Date
- 1907
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 27
- Keywords
- Briefnovelle
- Categories
- Weiteres Belletristik