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dritten zum Train, schüttet Pulver auf die Pfannen ihrer Gewehre und überläßt
sie dann ihrer inneren ungebändigten Kraft. Die „Comédie humaine“ hat trotz
der schönen – aber nachträglichen! – Vorrede keinen inneren Plan. Sie ist
planlos, wie das Leben ihm selbst planlos erschien, sie zielt nicht auf eine
Moral hin und nicht auf eine Übersicht, sie will als Wandelndes das ewig sich
Wandelnde zeigen; in all diesem Ebben und Fluten ist keine dauernde Kraft,
sondern nur ein momentaner Zug wie die geheimnisvolle Anziehung des
Mondes, jene unkörperliche, wie aus Wolken und Licht gewebte Atmosphäre,
die man Epoche nennt. Dieses neuen Kosmos einziges Gesetz wäre, daß alles,
was gleichzeitig aufeinander wirkt, auch sich selbst verändert, daß nichts frei
wie ein Gott, der nur von außen stieße, wirkt, sondern daß alle die Menschen,
deren unbeständige Vereinung erst die Epoche ausmacht, ebenso von der
Epoche geschaffen werden, daß ihre Moral, ihre Gefühle ebenso Produkte
sind wie sie selbst. Daß alles Relativitäten sind, daß, was in Paris Tugend
genannt wird, hinter den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte
vorhanden seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt so werten
müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt: daß sie immer wert sei, was sie
ihn koste. Aufgabe des Dichters, dem – schon weil er selbst nur Produkt,
Kreatur seiner Zeit ist – versagt ist, das Bleibende aus diesem Wandel zu
gewinnen, kann nur sein, den atmosphärischen Druck, den geistigen Zustand
seiner Epoche zu schildern, das Wechselspiel der gemeinsamen Kräfte, die die
Millionen Moleküle beseelten, zusammenfügten und wieder zerteilten.
Meteorologe der sozialen Luftströmungen, Mathematiker des Willens,
Chemiker der Leidenschaften, Geologe der nationalen Urformen – ein
vielfältiger Gelehrter zu sein, der mit allen Instrumenten den Körper seiner
Zeit durchdringt und behorcht, und gleichzeitig ein Sammler aller Tatsachen,
ein Maler ihrer Landschaften, ein Soldat ihrer Ideen, das zu sein ist Balzacs
Ehrgeiz, und darum war er so unermüdlich im Verzeichnen ebenso der
grandiosen wie der infinitesimalen Dinge. Und so ist sein Werk nach dem
Dauerwort Taines das größte Magazin menschlicher Dokumente seit
Shakespeare geworden. Seinen Zeitgenossen und vielen der heutigen ist
Balzac freilich nur der Verfasser von Romanen. So betrachtet, durch das
ästhetische Glas visiert, erscheint er nicht so überlebensgroß. Denn er hat
eigentlich wenigestandard works. Balzac will nicht am Einzelwerk gemessen
werden, sondern am Ganzen, will betrachtet sein wie eine Landschaft mit
Berg und Tal, unbegrenzter Ferne, verräterischen Klüften und raschen
Strömen. Mit ihm beginnt – man könnte fast sagen, hört auch auf, wäre nicht
Dostojewski gekommen – der Gedanke des Romans als Enzyklopädie der
inneren Welt. Die Dichter vor ihm wußten nur zweierlei, um den schläfrigen
Motor der Handlung nach vorne zu treiben: sie statuierten entweder den
von außen wirkenden Zufall, der wie ein scharfer Wind sich in die Segel legte
und das Fahrzeug nach vorne trieb, oder sie wählten als die von innen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131