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Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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erlauschen, ehe sie ins Delirium sinkt, die gesteigerte Feinfühligkeit mißt mit stärkstem Ausschlag die zartesten Vibrationen der Sinne, und eine mystische Scharfsichtigkeit in den Sekunden des Vorgefühls zeugt bei ihm seherische Gabe des zweiten Gesichts, die Magie des Zusammenhangs. O wunderbare Verwandlung, fruchtbar in allen Krisen des Herzens! Der Künstler Dostojewski zwingt sich alle Gefahr in Besitz um, und auch der Mensch gewinnt nur neue Größe aus neuem Maß. Denn für ihn bedeuten Glück und Leid, die Endpunkte des Gefühls, eine ungleich gesteigerte Intensität, er mißt nicht mit den gemeinen Werten des durchschnittlichen Lebens, sondern mit den siedenden Graden seiner eigenen Phrenesie. Das Maximum an Glück, einem andern ist es Genuß einer Landschaft, Besitz einer Frau, Gefühl der Harmonie, immer aber durch irdische Zustände verstatteter Besitz. Bei Dostojewski sind die Siedepunkte des Empfindens schon im Unerträglichen, im Tödlichen. Sein Glück ist Spasma, der schäumende Krampf, seine Qual die Zerschmetterung, der Kollaps, der Zusammenbruch: immer aber blitzartig komprimierte essentielle Zustände, die im Irdischen keine Dauer haben können, die solche Hitzegrade erreichen, daß kaum eine Sekunde sie in ihren Händen halten kann und schmerzhaft sinken lassen muß. Wer im Leben ständig den Tod erlebt, kennt ein urmächtigeres Grauen als der Normale, wer die körperlose Schwebe gefühlt, eine höhere Lust als ein Körper, der nie die harte Erde ließ. Sein Begriff von Glück meint die Verzückung, sein Begriff von Qual die Vernichtung. Darum hat auch das Glück seiner Menschen nichts von einer gesteigerten Heiterkeit, sondern es flimmert und brennt wie Feuer, es zittert von verhaltenen Tränen und schwült von Gefahr, es ist ein unerträglicher, undauerhafter Zustand, ein Leiden mehr als ein Genießen. Seine Qual wiederum hat etwas, das den gemeinen Zustand von dumpfer würgender Angst, von Last und Grauen schon überbrückt hat, eine eiskalte, beinahe lächelnde Klarheit, eine teuflische Gier der Bitterkeit, die keine Träne kennt, ein trockenes kollerndes Lachen und ein dämonisches Grinsen, in dem wiederum beinahe schon Lust ist. Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit des Gefühles ähnlich weit aufgerissen, nie die Welt so schmerzhaft weit gespannt als zwischen diesem neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat. In dieser Polarität, die ihm das Schicksal aufgeprägt hat, und nur aus ihr ist Dostojewski zu verstehen. Er ist das Opfer eines zwiespältigen Lebens und – als leidenschaftlicher Bejaher seines Schicksals – darum Fanatiker seines Kontrastes. Die Heißglut seines künstlerischen Temperaments entsteht einzig aus der fortwährenden Reibung dieser Gegensätze und, statt sie zu vereinen, reißt der Maßlose in ihm den eingeborenen Zwiespalt immer weiter auseinander zu Himmel und Hölle: nie verheilt die klaffende Wunde im brennenden geistigen Fieber des Schaffens. Dostojewski, der Künstler, ist das 71
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Drei Meister Balzac - Dickens - Dostojewski
Title
Drei Meister
Subtitle
Balzac - Dickens - Dostojewski
Author
Stefan Zweig
Date
1920
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
134
Keywords
Literatur, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
  2. Balzac 7
  3. Dickens 29
  4. Dostojewski 50
  5. Einklang 51
  6. Das Antlitz 54
  7. Die Tragödie seines Lebens 56
  8. Sinn seines Schicksals 66
  9. Die Menschen Dostojewskis 77
  10. Realismus und Phantastik 90
  11. Architektur und Leidenschaft 103
  12. Der Überschreiter der Grenzen 113
  13. Die Gottesqual 121
  14. Vita Triumphatrix 131
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