Seite - 71 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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erlauschen, ehe sie ins Delirium sinkt, die gesteigerte Feinfühligkeit mißt mit
stärkstem Ausschlag die zartesten Vibrationen der Sinne, und eine mystische
Scharfsichtigkeit in den Sekunden des Vorgefühls zeugt bei ihm seherische
Gabe des zweiten Gesichts, die Magie des Zusammenhangs. O wunderbare
Verwandlung, fruchtbar in allen Krisen des Herzens! Der Künstler
Dostojewski zwingt sich alle Gefahr in Besitz um, und auch der Mensch
gewinnt nur neue Größe aus neuem Maß. Denn für ihn bedeuten Glück und
Leid, die Endpunkte des Gefühls, eine ungleich gesteigerte Intensität, er mißt
nicht mit den gemeinen Werten des durchschnittlichen Lebens, sondern mit
den siedenden Graden seiner eigenen Phrenesie. Das Maximum an Glück,
einem andern ist es Genuß einer Landschaft, Besitz einer Frau, Gefühl der
Harmonie, immer aber durch irdische Zustände verstatteter Besitz. Bei
Dostojewski sind die Siedepunkte des Empfindens schon im Unerträglichen,
im Tödlichen. Sein Glück ist Spasma, der schäumende Krampf, seine Qual
die Zerschmetterung, der Kollaps, der Zusammenbruch: immer aber blitzartig
komprimierte essentielle Zustände, die im Irdischen keine Dauer haben
können, die solche Hitzegrade erreichen, daß kaum eine Sekunde sie in ihren
Händen halten kann und schmerzhaft sinken lassen muß. Wer im Leben
ständig den Tod erlebt, kennt ein urmächtigeres Grauen als der Normale, wer
die körperlose Schwebe gefühlt, eine höhere Lust als ein Körper, der nie die
harte Erde ließ. Sein Begriff von Glück meint die Verzückung, sein Begriff
von Qual die Vernichtung. Darum hat auch das Glück seiner Menschen nichts
von einer gesteigerten Heiterkeit, sondern es flimmert und brennt wie Feuer,
es zittert von verhaltenen Tränen und schwült von Gefahr, es ist ein
unerträglicher, undauerhafter Zustand, ein Leiden mehr als ein Genießen.
Seine Qual wiederum hat etwas, das den gemeinen Zustand von dumpfer
würgender Angst, von Last und Grauen schon überbrückt hat, eine eiskalte,
beinahe lächelnde Klarheit, eine teuflische Gier der Bitterkeit, die keine Träne
kennt, ein trockenes kollerndes Lachen und ein dämonisches Grinsen, in dem
wiederum beinahe schon Lust ist. Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit des
Gefühles ähnlich weit aufgerissen, nie die Welt so schmerzhaft weit gespannt
als zwischen diesem neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits
aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat.
In dieser Polarität, die ihm das Schicksal aufgeprägt hat, und nur aus ihr ist
Dostojewski zu verstehen. Er ist das Opfer eines zwiespältigen Lebens und –
als leidenschaftlicher Bejaher seines Schicksals – darum Fanatiker seines
Kontrastes. Die Heißglut seines künstlerischen Temperaments entsteht einzig
aus der fortwährenden Reibung dieser Gegensätze und, statt sie zu vereinen,
reißt der Maßlose in ihm den eingeborenen Zwiespalt immer weiter
auseinander zu Himmel und Hölle: nie verheilt die klaffende Wunde im
brennenden geistigen Fieber des Schaffens. Dostojewski, der Künstler, ist das
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131