Seite - 66 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Sinn seines Schicksals
Ein Meister bin ich worden
Zu tragen Lust und Leid,
Und meine Lust zu leiden,
Ward mir zur Seligkeit.
Gottfried Keller
Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski und seinem Schicksal,
eine Art liebevoller Feindschaft. Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu,
alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander; es tut
ihm weh, das Leben, weil es ihn liebt, und er liebt es, weil es ihn so stark faßt,
denn im Leiden erkennt dieser Wissendste die stärkste Möglichkeit des
Gefühls. Nie gibt das Schicksal ihn frei, immer knechtet es ihn aufs neue, um
diesen einen gläubigen Menschen sich zum ewigen Blutzeugen seiner Macht
und Herrlichkeit zu erschaffen. Wie Jakob ringt es mit ihm, die unendliche
Nacht seines Lebens bis zum Morgenrot des Todes und läßt ihn nicht aus der
Umkrampfung, ehe er es nicht gesegnet hat. Und Dostojewski, der
„Gottesknecht“, begreift die Größe dieser Botschaft und findet höchstes
Glück darin, der ewig Bezwungene unendlicher Mächte zu sein. Mit
fiebernden Lippen küßt er sein Kreuz: „Es gibt für den Menschen kein
notwendigeres Gefühl, als sich vor dem Unendlichen beugen zu können.“ In
die Knie gebrochen unter der Last seines Schicksals, hebt er fromm die Hände
und bezeugt die heilige Größe des Lebens.
In dieser Leibeigenschaft des Schicksals ist Dostojewski durch Demut und
Erkenntnis der große Überwinder alles Leidens geworden, der mächtigste
Meister und Umwerter seit den Tagen des Testaments. Nur durch die
Gewalttätigkeiten seines Schicksals ward er selbst gewaltig, und die
Hammerschläge, die auf den Amboß seiner Existenz fallen, schmieden erst
seine innere Kraft. Je tiefer sein Körper stürzt, desto höher schwingt sich sein
Glaube, je mehr er als Mensch erleidet, um so seliger erkennt er den Sinn und
die Notwendigkeit des Weltleidens. Amor fati, die hingegebene Liebe zum
Schicksal, die Nietzsche als das fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt
ihn in jeder Feindlichkeit nur die Fülle fühlen, jede Heimsuchung als Heil.
Wie Bileam verwandelt jeder Fluch sich dem Auserwählten zum Segen, jede
Erniedrigung in Erhöhung. In Sibirien, Ketten an den Füßen, verfaßt er einen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131