Seite - 54 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Bild der Seite - 54 -
Text der Seite - 54 -
Das Antlitz
Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben, fast schmutzig
falten sich die eingesunkenen Wangen, zerpflügt von vieljährigem Leid,
dürstend und versengt spannt sich mit vielen Sprüngen die rissige Haut, der
jener Vampir zwanzigjährigen Siechtums Blut und Farbe entzogen. Rechts
und links starren, zwei mächtige Steinblöcke, die slawischen Backenknochen
heraus, den herben Mund, das brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von
Bart. Erde, Fels und Wald, eine tragisch elementare Landschaft, das sind die
Tiefen von Dostojewskis Gesicht. Alles ist dunkel, irdisch und ohne
Schönheit in diesem Bauern- und beinahe Bettlerantlitz; flach und farblos,
ohne Glanz dunkelt es hin, ein Stück russische Steppe auf Stein versprengt.
Selbst die Augen, die tief eingesenkten, vermögen aus ihren Klüften nicht
diesen mürben Lehm zu erleuchten, denn nicht nach außen schlägt klar und
blendend ihre gerade Flamme, gleichsam nach innen ins Blut hinein brennen
zehrend ihre spitzen Blicke. Wenn sie sich schließen, stürzt der Tod sofort
über dies Gesicht, und die nervöse Hochspannung, die sonst die mürben Züge
zusammenhält, sinkt nieder ins lethargisch Unbelebte.
Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom Reigen der Gefühle
auf, dem sich zögernd Scheu und dann leidenschaftlich, in wachsender
Bezauberung, Bewunderung gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die
fleischliche, seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen
naturhaften Trauer. Aber wie eine Kuppel, weißstrahlend und gewölbt, hebt
sich ragend über dem engen bäurischen Gesicht die aufstrebende Rundung
der Stirne: aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert der geistige
Dom: harter Marmor über den weichen Lehm des Fleisches, das wüste
Dickicht des Haares. Alles Licht strömt in diesem Antlitz nach oben, und
blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige,
königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und sich zu weiten
scheint, je mehr das alternde Antlitz in Krankheit vergrämt und vergeht. Wie
ein Himmel steht sie hoch und unerschütterlich über der Hinfälligkeit des
gebrestigen Körpers, Glorie von Geist über irdischer Trauer. Und auf keinem
Bilde leuchtet dies heilige Gehäuse des sieghaften Geistes glorreicher als von
jenem des Totenbetts, da die Lider schlaff über die gebrochenen Augen
gefallen sind, die entfärbten Hände, fahl und doch fest, das Kreuz gierig
umfassen (jenes arme kleine Holzkruzifix, das einst eine Bäuerin dem
Zuchthäusler schenkte). Da strahlt sie wie von morgens die Sonne über
nächtiges Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem Glanz
die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der Geist und der Glaube ihn
erlösten vom dumpfen niederen und körperlichen Leben. In letzter Tiefe ist
54
Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131