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Die Menschen Dostojewskis
„O glaubet nicht an die Einheit des Menschen.“
Dostojewski
Vulkanisch er selbst, vulkanisch darum seine Helden, denn jeder Mensch
bezeugt im letzten nur den Gott, der ihn erschuf. Sie sind nicht friedlich
eingeordnet in unsere Welt, überall reichen sie mit ihrem Empfinden bis zu
den Urproblemen hinab. Der moderne Nervenmensch in ihnen ist gepaart dem
Wesen des Anfangs, das nichts vom Leben weiß als seine Leidenschaft, und
mit den letzten Erkenntnissen stammeln sie gleichzeitig die ersten Fragen der
Welt. Ihre Formen sind noch nicht ausgekühlt, ihr Gestein nicht geschichtet,
ihre Physiognomien nicht geglättet. Ewig unvollendet sind sie und darum
doppelt lebendig. Denn der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der
abgeschlossene, und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche hinaus. Ihm
erscheinen Menschen nur insolange als Helden und künstlerisch
gestaltungswert, als sie mit sich entzweit sind, problematische Naturen: die
Vollendeten, die Ausgereiften schüttelt er von sich ab wie der Baum seine
Frucht. Dostojewski liebt seine Menschen nur, solange sie leiden, solange sie
die gesteigerte, zwiespältige Form seines eigenen Lebens haben, solange sie
Chaos sind, das sich in Schicksal verwandeln will.
Stellen wir seine Helden vor ein anderes Bild, um sie in ihrer wundervollen
Sonderheit besser zu verstehen. Vergleichen wir. Rufen wir einen Helden
Balzacs als den Typus französischen Romans in uns auf, so entsteht unbewußt
eine Vorstellung von Geradlinigkeit, Umgrenztheit und innerer
Geschlossenheit. Ein Begriff, deutlich wie eine geometrische Figur und
gesetzvoll wie sie. Alle Menschen Balzacs sind aus einer einzigen, durch die
seelische Chemie genau bestimmbaren Substanz gefertigt. Sie sind Elemente
und haben alle wesenhaften Eigenschaften eines solchen, also auch typische
Formen der Reaktion im Moralischen und Psychischen. Sie sind kaum
Menschen mehr, sondern beinahe schon menschgewordene
Eigenschaft, Präzisionsmaschinen einer Leidenschaft. Für jeden Namen kann
man bei Balzac als Korrelat eine Eigenschaft setzen: Rastignac ist gleich
Ehrgeiz, Goriot ist gleich Aufopferung, Vautrin ist gleich Anarchie. In jedem
dieser Menschen hat eine dominierende Triebkraft alle anderen inneren Kräfte
an sich gerissen und in die Richtung des zentralen Lebenswillens gedrängt.
Sie sind charakterologisch klassifizierbar, diese Helden, denn eine einzige
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131