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Der Überschreiter der Grenzen
„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.“
Goethe
Tradition ist steinerne Grenze von Vergangenheiten um die Gegenwart: wer
ins Zukünftige will, muß sie überschreiten. Denn die Natur will kein
Innehalten im Erkennen. Zwar scheint sie Ordnung zu fordern und liebt doch
nur den, der sie zerstört um einer neuen Ordnung willen. Immer schafft sie
sich in einzelnen Menschen durch Übermaß ihrer eigenen Kräfte jene
Konquistadoren, die von den heimischen Ländern der Seele in die dunklen
Ozeane des Unbekannten hinausfahren zu neuen Zonen des Herzens, neuen
Sphären des Geistes. Ohne diese kühnen Überschreiter wäre die Menschheit
in sich gefangen, ihre Entwicklung ein Kreisgang. Ohne diese großen Boten,
in denen sie sich gleichsam selbst vorauseilt, wäre jede Generation unkund
ihres Weges. Ohne diese großen Träumer wüßte die Menschheit nicht um
ihren tiefsten Sinn. Nicht die ruhigen Erkenner, die Geographen der Heimat,
haben die Welt weit gemacht, sondern die Desperados, die über unbekannte
Ozeane zum neuen Indien fuhren: nicht die Psychologen, die Wissenschaftler,
haben die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter
den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.
Von diesen großen Grenzüberschreitern der Literatur ist Dostojewski in
unseren Tagen der größte gewesen, und keiner hat so viel Neuland der Seele
entdeckt als dieser Ungestüme, dieser Maßlose, dem nach seinem eignen Wort
„das Unermeßliche und Unendliche so notwendig war wie die Erde selbst“.
Nirgends hat er innegehalten, „überall habe ich die Grenze überschritten,“
schreibt er stolz und selbstanklagend in einem Briefe, „überall“. Und
unmöglich ist es fast, alle seine Taten aufzuzählen, die Wanderungen über die
eisigen Grate des Gedankens, die Niederstiege zu den verborgensten Quellen
des Unbewußten, die Aufstiege, die gleichsam traumwandlerischen Aufstiege
zu den schwindelnden Gipfeln des Selbsterkennens. Wo kein gewöhnlicher
Weg war, er hat ihn beschritten, wo Labyrinth und Wirrnis war, am liebsten
gelebt. Nie hat die Menschheit zuvor so tief den Mechanismus und die Mystik
ihres seelischen Wesens erkannt, sie ist wacher und bewußter geworden in
seinem Blick und gleichzeitig geheimnisvoller und göttlicher in seinem
Gefühl. Ohne ihn, den großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die
Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken wir
von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131