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Alexandra Caruso
„Der Wiener Vasari“
Gleich vorweg sei angemerkt : Erica Tietze-Conrats Tagebuch ist kein „cahier in-
time“, in das sie ihre stärksten Empfindungen einfließen ließ. Einblicke in Intimität
sind bis auf wenige Einträge ausgespart („Ich will nichts Näheres schreiben“). In die-
sem Sinn bieten die Tagebücher keinen Blick hinter die Kulissen. Vielmehr präsen-
tiert sich ein Leben als Bühne, als Idealfall einer tätigen und damit meist glücklichen
Existenz. Einzig die Furcht vor Einsamkeit kratzt gelegentlich an der Fassade („Ich
habe fast täglich schwere Depressionen“). Vorlieben und Interessen erscheinen, wie
das Verhalten insgesamt, vollkommen selbstverständlich, kaum werden je Zweifel ge-
äußert. Man hat das Leben im Griff. Die unmittelbaren Verhältnisse sind frei und
aufgeklärt, vis-à-vis einer zusehends stärker verschlossenen Umwelt. Somit kann auch
oftmals ausgespart werden, worauf man ohnedies keinen Einfluss nehmen kann und
will. Dazu gehören die beruflichen Aktivitäten von Ehemann Hans ebenso wie die
große Politik. Nur leise, doch beredte Spuren ihres Gefühlslebens lassen sich in den
Tagebüchern entdecken : „Das ist mein äußeres – inneres Leben ; unscheinbar und
doch wie jedes, in der Nähe gesehen, einzigartig“1 – ein Satz, der programmatisch
dieser Edition der Tagebücher vorangestellt werden könnte.
Und immer wieder sind es die Pausen beim Schreiben, die nach eigenen Aussa-
gen Beweis für die starke „Intensität des Erlebens“ sind („Ich erlebe innerlich viel,
mag aber nicht schreiben“). Was ist es also, das sie zum Tagebuchschreiben anhielt ?
Vielleicht ließe sich eine Antwort auch darin finden, wie sie eben jene Schreibpausen
erklärt : „Äußere Veranlassung : es fehlte mir ein passender Block. Innere Ursache : ich
hab keine Gedichte gemacht.“ Oder : „Ich schreib am Roman – hab keine Gedichte
gemacht, die ich ins Tagebuch eintragen möchte.“ Der chronologische Rhythmus der
Tageseinträge steckt demnach das Terrain ab, in das ihre Gedichte einfließen. Tat-
sächlich sind ihre Tage belegt mit einem „Vielerlei von Tätigkeiten“. Ein freier Kopf
bedeutet Muße („Ich hab nicht einen Abend einen freien Kopf“), und diese benötigt
sie natürlich zum Dichten. Das Tagebuchschreiben ist also ein Moment des Zu-sich-
Kommens („Ich zeichne, ich dichte. Wann werde ich wieder so ein Leben à mon aise
führen können ? !“).
In Erica Tietze-Conrats frühen Aufzeichnungen nimmt der junge Maler und
Grafiker Georg Ehrlich eine herausragende Stellung ein. Er ist ihr Visavis im künst-
lerischen Schaffensprozess, an seiner künstlerischen Vitalität partizipiert sie („Er hat
anscheinend gut gearbeitet und ich hab nach langer Unterbrechung wieder gedich-
tet“). An seiner Arbeit beobachtet sie die Eigenheiten einer Künstlerexistenz, den
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien