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„Der Wiener Vasari“
ter, aber der Haushalt ist groß und die sozialpolitische Stellung von Juden im öf-
fentlichen Dienst zu unsicher, um auf die Einkünfte aus freiberuflichen Tätigkeiten
verzichten zu können („Abends Vorträge halten und hören, Menschen empfangen,
diese ganze geistige Mondänität, die mir so verhaßt ist. Dazu haben wir beide eine
Art Geldpsychose, Angst, daß es nicht ausgeht u. darum dieses scheußliche Gefühl,
daß man nichts ‚auslassen‘ darf“). Offensichtlich ist, dass sich viele Kontakte über
Ehemann Hans anbahnen. Gelegentlich entsteht dabei ein Interessenkonflikt. Vor
allem dann, wenn Hans Tietzes Tätigkeit für das Ministerium ins Spiel kommt. Erica
Tietze-Conrat und Hans Tietze sind ein Arbeitsteam im ganz modernen Sinn ; eine
mobile kunsthistorische Forschungs-, Lehr-, und Schreibfactory.
Der Markenname Tietze bürgt für Seriosität und trotz der außerordentlichen
Menge der Veröffentlichungen auch für Qualität. „Sukzessive formierte sich […]
eine Wissenschaftskultur außerhalb der akademischen Anstalten : in Zirkeln, in pri-
vaten Seminaren, in vereinsmäßig geführten akademischen Gesellschaften, in kom-
munal finanzierten außeruniversitären Instituten und in privaten Projekten. Diese
randständigen Gruppen waren zumeist ausgesprochen innovativ ; sie fanden daher
auch in den ausländischen scientific communities zusehends Beachtung.“6 Nicht nur
die Handschriften der beiden ähneln einander zum Verwechseln (wobei der Schrift-
zug des ehemaligen Staatsbeamten neben Erica Tietze-Conrats etwas verspielten
und ausladenden Zügen penibler und gleichförmiger wirkt), die Tagebücher geben
auch Aufschluss darüber, dass Erica Tietze-Conrat in den frühen 1920er-Jahren
Texte verfasste, die unter Hans Tietzes Namen erschienen („für den Hans einen Ar-
tikel über Wiener Maler d. Gegenwart, eigentlich über OK, geschrieben“). Bei den
gemeinsam verfassten Texten ist eine „Scheidung der Hände“ schwer bis unmög-
lich. Dass ein derartiges Vorgehen auf die eingeschränkten Möglichkeiten weiblicher
Forscher zurückzuführen ist, versteht sich von selbst. Von weiblicher Frustration, die
man aus heutiger Sicht in diese Umstände hineinlegen würde, ist nichts zu spüren.
Ist Hans Tietze aufgrund seiner öffentlichen Einbindung bei der Wahl seiner For-
schungs- und Publikationsthemen grundsätzlich „opportunistischer“ (seine Schwer-
punkte liegen u. a. auf Österreich, Wien und dem Barock), so erscheint Erica Tietze-
Conrat hier zwangloser, freier. Das Publizieren unter beider Namen, spätestens ab
1926, ist die Formalisierung einer offensichtlich lang praktizierten Gepflogenheit.7
Ihre Arbeitskraft verkauft Erica Tietze-Conrat angemessen. Öffentlichkeit fin-
det sie neben dem Schreiben vor allem über die „Volksbildung“ – bei Vorträgen und
Dichterlesungen in der Wiener Urania. Die Möglichkeit, an einer Universität zu leh-
ren, wofür sie wohl prädestiniert gewesen wäre, erhält sie erst nach Hans Tietzes Tod
während ihrer letzten Lebensjahre in den USA. In das feine Räderwerk unterschied-
lichster Aktivitäten, von denen aber jeweils nur ein Zubrot abfällt, gehören auch die
fluktuierenden, oft aus dem Ausland stammenden Mitbewohner im Haus in der
Armbrustergasse in Döbling. Beinahe täglich erweitert sich der Familienkreis um den
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien