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„Der Wiener Vasari“
einen oder anderen Gast zum Nachtmahl, um einen Mitbewohner, einen Logierbe-
such oder ein Austauschkind. Es erscheint an dieser Stelle opportun, aus einem Brief
Erica Tietze-Conrats an den befreundeten Josef Floch, der damals bereits seit Länge-
rem in Paris lebte, zu zitieren, da hier die Modalitäten, die dem Aufenthalt der meist
jugendlichen Hausgäste zugrunde lagen, recht anschaulich wiedergegeben werden :
„Ich habe mir gedacht, daß ich […] zweierlei Angebote mache : 1) ein eigenes Zim-
mer, das geheizt wird, in dem er das Fenster bei Nacht zulassen kann (es wäre Burgls
Zimmer, die ja während Hans in Amerika ist, ruhig mit mir schlafen kann), also sehr
vornehm u. edel, inkl. ganzer Pension, Licht, Bad, Telephon, Wäsche (ausgenommen
die Putzereiwäsche, das sind steife Kragen, Frackhemden) – 10 Sch. täglich und für
die Mädchen 15 plus 3, also 18 Sch. im Monat. 2) Falls er sich wirklich entschließen
kann, bei Anderl zu wohnen, was sicher sehr gesund ist, eine Abhärtung fürs Leben,
wenn er’s aushält, so rechne ich nur 7 ½ Sch. täglich für alles zusammen (siehe oben),
das Trinkgeld für die Mädchen – 18 Sch. monatlich – dazu. Falls er mittags nicht
zuhaus ist, wird nix [sic !] abgezogen, aber er bekommt, wenn er es will, kaltes Nacht-
mahl aufgehoben (und sein Joghurt !).“8 Zwar stammt das Schreiben an Floch aus
dem Jahr 1935, doch kann man angesichts des wohldurchdachten Prozederes davon
ausgehen, dass bei früheren Gelegenheiten ähnlich vorgegangen worden war.
Der Tietze’sche Haushalt ist ein Netzwerk in Bewegung. Erica Tietze-Conrat
hatte eine lapidare Art, Personen zu erwähnen, meist ohne weiteren Kommentar,
stets den gleichen Abstand wahrend. Etliche junge Leute werden mal kürzer, mal
länger in die Familie aufgenommen. Weder ein Gästebuch hat sich erhalten noch
führen die zentralen Meldeakten außer dem Ehepaar Tietze weitere Bewohner für all
die Jahre an. Auch Fachkollegen ziehen vorübergehend bei Tietzes ein (Paul Clemen,
Gustav Kirstein), so wie sie selbst auch gelegentlich bei Kollegen und Freunden im
Ausland logieren (Campbell Dodgson, Josef Floch). Auch Tietzes bewegten sich in
jenen halb öffentlichen Zirkeln (Mahler-Werfel, Schwarzwald, Schönberg, Neurath
etc.), die Edward Timms so anschaulich in seinem Modell der Kreise für die Zeit um
1910 dargestellt hat.9 Doch gab es für sie auch noch ein häusliches, intimeres Netz-
werk, das sich für die Familie zukünftig als besonders tragfähig erweisen sollte.
Dank ihrer zahlreichen und rasch wechselnden Begegnungen ermöglicht Erica
Tietze-Conrat dem Leser unerwartete Einblicke in den Alltag der Wiener Kunst-
szene der frühen 1920er-Jahre, die damals, wie kaum je zuvor oder danach, mit der
internationalen Avantgarde in Berührung kam. Oft waren diese Treffen „sparten-
übergreifend“ und fanden in einer Privatwohnung oder einem Atelier statt, etwa bei
Kieslers, bei denen junge Theaterleute aus Berlin und Vertreter der niederländischen
Bewegung „De Stijl“ zu Gast waren, oder bei Lea Bondi, die ihren neuen Geschäfts-
partner, den bis heute unvergessenen Galeristen und Publizisten Alfred Flechtheim,
in Wien einführte. Fannina Halle war die Wiener Anlaufstelle für die russische
Avantgarde, und neben Kunstwissenschaftlern trafen sich in ihrer Wohnung auch
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien