Page - 48 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Image of the Page - 48 -
Text of the Page - 48 -
48
Tagebuch 1923
Wie Ihre Augen mit den Wolken
–
– gehen.
Die Zeit blieb stehen.
Nachmittag Barockmuseum mit Ehrlich u. der Hol-
länderin – aber es war finster, Gewitterwolken, gar
kein Sonnengitter auf der bleiernen Kaiserin.22
Dann ein Sprung bei Mama, die mir eine entzü-
ckende Goldkette zum altgoldnen Kleid gab. Ab-
schied von Maja, die sehr schwer wegfährt. Ich habe
rheu ma t[ische] Schmerzen an der rechten Hand, die
auch anschwoll. Abends bei Planiscig, der gegenüber
dem Burggarten wohnt mit einem Balkon über die
Ringstraße. Wundervoller Eindruck. Sternennacht
über den dichten Bäumen der Straße u. des Parks ;
dazu die Lichter der Autos und Elektrischen rot, weiß,
gelb und Großstadtlärm mit der Orchestermusik
aus dem Garten untermischt. Zum erstenmal ganz
Großstadtgefühl, so ungewohnt in Wien, wo es uns
kein Impressionismus beibrachte. Monet, Signac etc.
haben uns Paris so sehen gelernt, wir haben nur Ro-
mantiker für Wien gehabt. In einem bequemen Stuhl
saß ich lange auf dem Balkon u. verlor zweimal kurz
nacheinander die Sinne. Ein süßes aber doch bisschen
unheimliches Gefühl – zum erstenmal bei fremden
Leuten. Die Frau bisschen wie eine Soubrette, aber
die wundervollen blonden Haare sind schon ein wenig
weiß.
–
Sehr pikant. Sonst einfach. Mit dazugelernten kunsthist[orischen] Interessen. Ich
trank schnell 2 Schalen Schwarzen u. 3 Stamperln Schnaps u. die Ohnmacht kam
nicht wieder. Riesengroße Detailaufnahmen von Riccio angeschaut, die ins neue
Buch von Pl[aniscig] kommen sollen. Die Wohnung sonst wie der kleine Castiglione,
aber weil eben reduziert in Größe und Fülle sehr angenehm wirkend. Hans sehr lieb
beim Nachhausegehen. Aspirin, Fieberträume, früh auf.23
7.VII.1923
Streckstuhl unterm Nußbaum, Aspirin. Dann Ehrlich, der Gottseidank die Lust am
Modellieren wieder verlor u. mit seinem Ton abzog. Um 4 dann bei ihm, wo ich Stößl,
Lampl u. einem Architekten Berger den Todessprung vorlas. Sie waren wirklich ganz
entzückt davon und ergingen sich im Schimpfen über die Theaterdirektoren. Sie lob-
ten alles ; auch die Schwächen, zu denen sie den allzumilden Schluß rechneten. Ach
Abb. 7 : „Die bleierne Kaiserin“ – Franz Xaver
Messerschmidt, Maria Theresia, 1764–1766.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien