Page - 63 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Image of the Page - 63 -
Text of the Page - 63 -
63
Tagebuch 1923
(jüd[ische] Kunsthändler) – essen an Üppig-
keit) tauchte ein alter Mann auf, wurde rings-
herum unter dem Namen Dr. Kohn vorgestellt,
behielt den Hut auf, setzte sich an d. Tisch, aß
nicht u. ging, nachdem er sein Deplacement
eingesehen hatte. Nachher kamen Rathe u.
Dolbin, ersterer besprach mit Flechtheim eine
Fioriausstellung, letzterer skizzierte, d. h. kari-
katurierte herum. Flechtheim (ich sagte ihm
„sie haben den publiziertesten Kopf den’s gibt“)
ist nicht zu verfehlen (Difficile est, satiram non
scribere). Flechtheim erzählte viele Anekdoten,
vor allem von Liebermann. Da sie gewiß alle
im „Querschnitt“ stehen (das ist seine Zeit-
schrift) schreib ich sie nicht auf. Von Clemen
erzählte er, daß er sich immer Schuppen auf
den Rockkragen gebe, damit man glaube, er
habe wirkl[ich] Haare u. keine Perücke
…39
Wir mußten zu Fuß nachhaus (Steiners so-
gar bis nach Hietzing !) um 2 h löschten wir
aus. Aber ich hörte noch ½ 4 schlagen u. war
um ½ 7 schon wach. Fahr jetzt hinein den
Oeuvrekatalog für Ehrlich machen.
25. u. 26.VII.
Die Radierungen hab ich fast bis zu Ende fer-
tig gebracht, den Rest muß er jetzt alleine ma-
chen. Jedes Blatt, das mir gefiel wollt er mir schenken und Zeichnungen – ich nahm
aber nichts. Er drängte u. endlich erklärte ich es ihm. Bin augenblicklich so absolut
geldlos, daß ich mir nichts kaufen könnte – darum darf ich auch nichts geschenkt
nehmen. Eine unvollendete Radierung eines Narren nahm ich mir, ein Selbstportrait.
In den Abzug sind die Füße mit Tintenblei hineingezeichnet
…40
Am 25. waren wir, Hans u. ich, über Land. In Heiligenkreuz, aber bei Gutenstein,
aber bei Sitzenberg. Schönes Barockschloß von 1738 mit einer um 2 Dezenien spä-
teren Kirche, darin Maulpertschfresken (Auffindung d. Kreuzes) u. 2 Maulpertsch-
altarbilder (Hl. Wendelin u. Franz Xaver) diese stark eingeschlagen. In d. Schloß-
kapelle Trogerfresken. Auch sehr sehr gut. Harmlose, liebenswürdige Leute, ein
Vetter von Albert Figdor, ein Pflanzenphysiolog hier an d. Universität, – seine Frau
eine Schwester des Anatomen Hochstetter („der Mann ohne Überzieher“). Da die
Kunst um 1 Uhr erschöpft war, war das sich daranschließende Familienleben (bis
Abb. 11 : „Sie haben den publiziertesten Kopf den’s gibt“ –
Otto Dix’ (1891–1969) Porträt des Kunsthändlers Alfred
Flechtheim, ca. 1926.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien