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Tagebuch 1923
27.VIII.
Heut früh Therese auf Urlaub gereist. Ich stopfe, beaufsichtige die Kinder u. vermisse
meine schön kontemplative Muße. Dazu kommt noch, daß ich mich für Mittwoch
beim Zahnarzt angesagt habe
…
Ehrlich schreibt, daß er aquarelliert
– aber keine Landschaften
…
Am Nachmittag Sprechprobe von Alfs Polterabendstück König Adolph Gustavs
Ende und Glück. An die Alma referierend geschrieben u. d. Gedicht : Mein Name –
geschickt.
29.VIII.
Gestern abends war de Nicola hier, der die italienischen Bilder bei Castiglioni kata-
logisiert. Es war sehr heiter u. gemütlich. Erzählte von Berensons Reinlichkeitswahn,
der sich vor allem gegen die Fliegen richtet. Er fragte mich, was ich jetzt arbeite u. als
ich sagte : delle Poesie
– hielt er es für einen Scherz. Heut früh beim Zahnarzt, da der
gewisse Weisheitszahn keinen Gegenzahn hat, so hielt er es für besser ihn herauszu-
ziehen als ihn zu bekrönen. Und mir war es aus Gründen des Portemonnaies auch
lieber. So ging mein einziger Weisheitszahn dahin. Nachher Zittern, Benommenheit,
sonderbarerweise auch Halsweh von der Injektion. Trotzdem Galerie, den ganz ent-
zückenden neuen Dürer von 1505 anschauen. Z[um] T[eil] nur untermalt, wunder-
voll unberührt, reine Freude. Ebenso der Velasquez aus irgendeinem Stiegenhaus d.
Hofburg. Wirklich so hat nur ein einziger Mensch malen können. Es hat mich ganz
glücklich gemacht. Vroni fragt : „Kann man mit einem Tschechen Glas durchbohren ?“
Allgemeines Fragezeichen. „Weißt du, der Stoffel hat ihn in seiner Werkzeugtasche
am Rad.“ Anderl (natürlich) verstand zuerst, daß sie einen
– Franzosen meinte
…68
Für meine heutige geistige Leere hab ich wenigstens die Entschuldigung der Zahn-
operation. Stoffel gestern im Naturhistorischen, wo ihm der abgebaute Schneckendi-
rektor Sturany einige in Lofer gefundene Exemplare bestimmte. Heut früh sollte er mit
seiner ganzen Ausbeute wiederkommen. Bei der Toilette wurde ich sogar zurate gezo-
gen ; die Farbe der Strümpfe paßte ihm nicht recht zu den Schuhen u. sogar die Schuhe
mußte ich begutachten, es wären einige Nägel herausgefallen, ob das was macht … So
viel Ehre ist Sturany sicher seit seiner Bräutigamszeit (?) nicht wiederfahren.69
30.VIII.
Gestern abends war der Maler Floch da ; gar so still, wohlerzogen, gemäßigt – kurz
langweilig. Er hat eine Mappe voll mit Zeichnungen aus Palästina gebracht ; er war
fast 3 Monate auf Reisen. Die Zeichnungen sind aber direktes Bildervorstufenmate-
rial, Studienblätter, graphisch uninteressant. Wir haben nichts kaufen können u. das
hat uns sehr weh getan
…70
Herr Steiner hat Bedenken mit Paris, weil er zu wenig Geld hat ; wir zerstreuen
die Bedenken, sie nehmen ohnedies mehr mit als wir, wir werden schon auskommen.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien