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Tagebuch 1923
fer)), die Wasserleiche, nur zu seiner Lektüre, weil sie sicher für eine Tageszeitung
ungeeignet ist – u. ging. Ich war in guter Stimmung, aber sehr vorsichtig, daß nur ja
keine neuen Hoffnungen aufkämen
…81
Nach einigen notwendigen Einkäufen Albertina, Sachen für Kurt Wolff her-
richten (französ[ische] Graph[ik]), die Hans ihm morgen zeigen soll. Hier auch die
ausgesuchten Blätter für die Ausstellung französ[ischer] Zeichnungen 18. Jhs mit
Stix u. Reichel besichtigt, bei der Gelegenheit ein Blatt von Watteau (Schauspieler,
rechts hinten 2 angedeutet), das viel zu schwach war, eliminiert. Ein Jammer, daß
die Albertina auch hier unter ihren besten Blättern immer die kitschigsten Mo-
tive u. die finischedten* Zeichnungen gekauft hat.
Auch d. gute Erzherzog Albert hat halt nur die der
erzherzögl[ichen] Mentalität entsprechenden Zeitge-
nossen erworben.82
8. Sept[ember]
Am Nachmittag gestern Rendezvous mit Hans bei Ehr-
lich, der die Aquarelle u. ein in Berlin gemachtes Ölbild
(Knabe mit seiner Frühlingsvision) zeigte. Hans war
sehr sehr froh über das Gesehene. Er will immer alles
kaufen. Am Rückweg bei Grünwald eingekehrt, wo wir
auch mit Floch zusammentrafen. Abends Feuerwerk
auf d. Sportplatz, die Kinder waren von Felix eingela-
den. Ich im Bett. Während des Geknatters eingeschla-
fen. Dann große Angst um die Kinder wegen Gedränge,
glücklich über ihre jubelnden Stimmen. Heut früh sagte
Hans von Vronerls Zeichnung (mit Ball) : „Ich glaube,
Ehrlich ist doch nicht zum Portraitmaler sondern zum
Landschafter geboren. Ich glaube nicht, daß er so eine
Zeichnung wie diese oder gar wie deine in einem Bild
festhalten könnte. Wenn er so ein Bild malen könnte wie deine Zeichnung, so wäre das
etwas ähnliches wie der Aretino von Tizian.“ … „Am besten gefällt mir von seinen Sa-
chen überhaupt das Aquarell „buckliges Mädchen“ – fuhr er fort. – Das ist doch keine
Landschaft
– „Aber doch etwas ähnliches“, schloß er lachend
…83
9.IX.
Also gestern vormittag hat sich Kurt Wolff die französ[ische] Graphik angeschaut u.
daraufhin entschlossen, die Publik[ation] zu machen. Zur Mappe von meinen Ge-
dichten u. Ehrlichs Graphik steht er auch sympathisch, möchte aber erst natürlich
* zur Gänze ausgeführt
Abb. 19 : Konstantin Aleksandrovič Umanskij
verfasste nach dem Weltkrieg den ersten Bericht
über die neue russische Kunst, 1920.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien