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Tagebuch 1923
1. Oktober 1923
Wieder unterbrochen worden, um unsre Plaids herum begannen die Fußbälle zu
fliegen u. d. Schaukeln zu hutschen*, da brachen wir unsere Zelte ab, verschenkten
gruppenweise die zu viel von den jungen Leuten gekauften Raisins, die schwer trans-
portabelsten Reste unseres Dejeuner sur l’herbe und gingen auf die Terrasse. Schade,
daß d. Riesenrad beim Eiffelturm abgerissen wurde – so sieht er ganz fata morgana
aus. Rückfahrt wieder zu Schiff, sehr voll. Ohne Ungeduld, ohne Drängerei. Nach-
her demonstrierte der persische Architekt Guevrekian die Pläne, die er zum Salon
d’Automne schickt (Familien-, Atelierhaus, Hôtel), stark parisien – Loos kam dazu
u. putzte alles sehr maniak u. doch wieder sehr geistreich zusammen u. jeder einzelne
von uns gab ihm nachher ein Zuckerl** –
dann beim Essen vor allem Loos selbst, der
ihm alle guten Bissen u. Süßigkeiten auf d.
Teller legte. Auch ein Wiener Student war
mit, […] der elend französisch u. ebenso
schlecht deutsch spricht. Nachher Café de
la Rotonde – eine dekolletierte Negerin mit
Pariser Lächeln in dem barbarischen Ge-
sicht
– Moissi Kogan der russische Bildhauer
auch noch an unseren Tischen. – Diesmal
schon um 12 im Bett – Ehrlich, der Perser u.
Loos noch spazieren gegangen.99
15. Okt[ober] 1923
Wieder eine ganz lange Pause, gewiß wäre es sehr vernünftig gewesen, in Paris alle
Tage zu schreiben – aber es war einfach nicht möglich. Physisch schon. Und dann :
ich bin keinen Augenblick zu mir selbst gekommen. Zusammengekommen mit
Chagall (affektierte Dame trotz Hosen), ein Abend mit Le Fauconnier (doktrinärer
Anek dotenonkel), Besuch bei Poiret
– hundert Kunsthändler
– dann letzter Tag noch
Pellerin mit dem ganz starken Eindruck der Cézannes. Dem Ehrlich ist d. Geld aus-
gegangen u. wir haben ihm unter die Arme gegriffen u. so das Bild von mir abgezahlt.
Folge davon : nach der Rückkehr großer finanzieller Kladderadatsch, den ich noch gar
nicht überschauen kann, wie wir uns wieder herauswuzeln*** sollen. Lili hier, wir haben
sie von Ehrlich zeichnen lassen. Flechtheim kommt Dienstag abends und Lia Rosen,
die „kleine Schauspielerin“, die wir am Rückweg in der Bahn kennengelernt haben.
Darüber will ich jetzt eine Novelle schreiben.
–100
* schaukeln
** Bonbon
*** befreien
Abb. 24 : Das Pariser „Riesenrad“ wurde 1923 abgerissen.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien