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Tagebuch 1923
Stoffel hatte inzwischen in unser beider Namen für die „Deutschlandhilfe der Ge-
meinde Wien“ mit dem Schlemmer eingesammelt u. war dabei durch einen 50.000
K[ro nen]schein, den er sich beim Schaukal holte, herausgerissen worden. Heut vor-
mittag war eine Frau Eggers hier, ehemalige Schauspielerin, jetzt Kunstgewerblerin
in Breslau, aus valutarischen Gründen auf Reisen, derzeit Hüte bei Frau Swoboda ar-
beitend. Trostlos breslauerisch angezogen, daß ich sie niemandem empfehlen möchte.
Hans schrieb nach Zürich, wo er im Jänner (um den 9.) zwei Vorträge halten soll.
Statt des einen (Kokoschka), zu dem er sich von den späteren Arbeiten Diapositive
versorgen mußte, schlug ich ihm „die Wiener expressionistische Malerei“ vor mit d.
Untertitel OK, Schiele und Georg Ehrlich – worauf er einging. Für das 2. Thema
muß noch ein „ziehenderer“ Titel gefunden werden.151
5. Jänner 1923 [verschrieben : 5. Dezember 1923]
Sonntag spät abends war noch der Doktor Popp da, nach jahrelanger Abwesenheit
vorübergehend in Wien. Montag hab ich die Ausstellungen von Schiele (Nirenstein)
und die französ[isch-]österr[eichische] bei Flechtheim-Bondy angesehen mit der
Kunstübersättigung, an der ich schon eine ganze Weile jetzt laboriere. Im Hagen-
bund war Jury u. Rappaport wurde abgewiesen – Ehrlich soll (wie mir Floch spä-
ter mitteilte) weit überragend sein u. ein eigenes Kabinett bekommen. Nachmittag
Spazieren mit einfacher Musik im Gemüt – abends Kolig u. ein hungernder deut-
scher Maler, dem Alf (der zufällig da war) alle Reste auf d. Teller legte ([…] – Ta-
lent Durchschnitt). Dienstag Halle Kurs in d. Albertina, Rembrandtradierungen. Da
nur 3 Damen bei d. schlechtem Wetter gekommen waren, ist es wirklich genußreich
gewesen. Mittag bei Berls, der sich nach einem Tanagratheater für sein Bureau er-
kundigte. Dann Atelier Floch mit gemütlichem Plausch. Er hatte den Boden (wohl
mir zu Ehren) ganz frisch gestrichen u. war bei dieser Gelegenheit um seine ganzen
Nahrungsvorräte bestohlen worden. Die Bilder sind gut, sehr gleichartig, konsequent.
Mit ihm zu Kieslers Vortrag, der wirklich sehr geistvoll u. trotz der großen Länge sehr
packend war. Ich war nachher als erster bei ihm im Künstlerzimmer, hab ihm gratu-
liert
– er war ganz kollabiert u. sein Kopf sah dadurch wirklich schön aus. Heut’ früh
gab mir Therese die Christkindlbriefe der Kinder. Für Vroni hat Anderl geschrieben
–
dieser u. sein eigener in Goldfarbe. Anderl schreibt : Liebes Christkind
– Ich bitte um
ein dickes schönes Buch, und um eine Krawatte von buntem Tuch, Einen Radier-
gummi und eine Feder, und einen Bleistift von echtem Ceder, und einen Christbaum
mit vielen Kerzen, mit vielen Fischen und vielen Herzen. Anderl. Burgls Brief fängt
an : Ich wünsche mir meine große Puppe. Das ist die Puppe, die alljährlich zu Weih-
nachten kommt und Ostern verschwindet.152
14. Dezember 1923
Das war eine lange Pause. Ich bin am 6. in der Früh gleich nach dem Nikolo mit
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien