Page - 140 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Image of the Page - 140 -
Text of the Page - 140 -
140
Tagebuch 1923
einem Rucksack auf dem Buckel* nach Küb gefahren ; habe mich dort im Küber Hof,
bei Frau Rella einquartiert und fünf Tage in der Einsamkeit zugebracht. In der Früh
alle Tag vom Bett aus durch das weitgeöffnete Fenster das Erwachen des Tages mit-
gemacht, eines ganz blauen Tages mit dem Schneeberg als Blickziel. Am Vormit-
tag 2–3 Stunden spazierengegangen, nach Tisch dann zu schreiben angefangen, mit
kleinen Unterbrechungen bis ½ 10. Dann gute Nacht. Gäste fast gar keine. U. a. ein
Durchschnittstyp Herr Sein von d. Kreditanstalt, nett und lieb eine Nichte der Frau,
Hertha Heßhaimer, die Tochter des Offizierradierers, der auch gereimte Aphorismen
von sich gibt
…153
Ich hab das erste Kapitel vom Saulroman geschrieben u. muß es mir noch überle-
gen, ob es eine Novelle für sich sein kann. Es ist das lyrische, oder idyllische Vorspiel,
in dem aber alle Möglichkeiten der künftigen Charakterentwicklung schon angelegt
sein müssen. Nun könnte man diese als in großen Zügen bekannt voraussetzen
– und
somit hätte d. Kapitel als Novelle seine Berechtigung.
–
Dienstag abends kam ich nachhaus, weil mir der Montag einsetzende Post etc.
streik keine Ruhe mehr ließ. Hans war gerade an diesem Tag nach Brünn zu ei-
nem Vortrag „über moderne Kunst“ gereist und kam erst Mittwoch abends zurück.
Mittwoch vormittag war ich Weihnachtseinkäufe machen, dann auf einen Sprung
im Hagenbund, wo wirklich eine frische nette Ausstellung ist. Sicher alle an Ethos
und sonderbarer Weise auch menschlicher Reife hoch überragend der an Jahren so
junge Ehrlich ; gewiß vor allem durch mein Portrait, um das auch der ganze ihm ein-
geräumte Raum aufgebaut ist. Am Nachmittag Kopfwaschen, dann in einem halben
Stündchen ein Weihnachtsspiel gereimt. Stoffel-Krampus, der sich beklagt, daß d.
Christkind die ganze Ruten-Pädagogik vom 6. mit seinen Gaben wieder aufhebt und
dieses darum auf seinem Weg hinunter zu d. 4 Haderlumpen** d. Armbrustergasse
aufhalten will. Er bedient sich dabei der Burgl-Sternschnuppe, die durch die Annä-
herung an das Vroni-Christkind, diesem den Schnupfen bringt. Äskulap heilt ihn u.
d. Christkind kann zur großen Wut des Krampus doch wieder hinunter u. Besche-
rung halten. Gestern vormittag Eislers Rembrandt als Landschaft mit viel Verdruß
gelesen (zur Vorbereitung). Nachmittag 2 Stunden gehalten, dazwischen bei Würthle
die (3) Bilder vom jungen Frankl angeschaut. Sehr begabt, Linie Böckl.
–154
Heute geht wieder d. Telephon ! Ehrlich teilt mir mit, daß seine Mutter erkrankt
ist u. er sie ins Rudolfinerhaus bringt. Von Dvorak d. Aufsatz über Schongauer (Die
Kunstgeschichte als Geistesgeschichte) gelesen.155
15. Dez.[ember]
Früh Bücher f. Kinder in d. Grinzinger Schule ausgesucht. Dann bei Nebehay, die
* Rücken
** Herumtreiber
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien