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Tagebuch 1923
3 Kolbezeichn[ungen], die uns gehören, agnosziert und d. große figurale Bild von
Boeckl mit einigem Eindruck angeschaut, (großes Paar (nackte Frau) im Freien).
Sehr vital – roh, bißchen spätkokoschkig – andere sagen, sie hätten es f. einen OK
gehalten (z. B. Cassirer, der derzeit in Wien ist.) Eröffnung d. Neuerwerbungen d.
Albertina in der Sezession. Wundervolle Ausstellung – Auswahl, vor allem Franzo-
sen des 19. Jhs. Mittag bei Georg Halle, wo ich unser Alt-Wien überreichte – siehe
da die Frau hatte schon ein Exempl[ar] als „Clou“ für d. Gatten eingekauft gehabt.
Dann Kurs bei Frappart, Hans teleph[oniert] mir, ich könnte den Klubsaal am 6. Jän-
ner in d. Urania haben. Ich lehnte ab. Ein Sonn- und Feiertag, das ist zu viel d. Guten.
Am Spätnachmittag bei Ehrlich, der einen tiefgehenden Katzenjammer hatte, den
ich ihm wegsprach, bez[iehungsweise] wegsprechen ließ. Dann Vorlesung Eidlitz in
d. Albertina. Bekannte (nur) Sachen, schlecht fragmentiert. Am Nachhauseweg den
Hans mit Ehrlichs Katzenjammer gequält
…156
20. Dezember 1923
Tagelange Pause. Am Sonntag (16.) hab ich dem Hans das 1. Kapitel „Saul“, das ich
in Küb geschrieben hab’, vorgelesen und es hat ihm gut gefallen. Für mich steht es
noch nicht da. Das liegt gewiß an der Länge, an der Undramatik u. daran, daß es
ja ein Teil nur ist, mit „Forts[etzung] folgt“. Am Dienstag war ich bei einer 21jäh-
r[i gen] Malerin u. Graphikerin Grete Hammerschlag, die ein Atelierzimmer in d.
Himmelpfortg[asse] 3 hat, so gut wie unheizbar. Petroleumlampe, sitzt oben ganz
mutterseelenallein u. malt, zeichnet, schneidet in Holz Dirnen, Zuhälter, Wurstelpra-
terstimmung. Herzergreifend. Montag (ich hab ganz vergessen) hat Hans in Hiet-
zing an der Schule seinen Vortrag über moderne Kunst gehalten u. nachher Rast bei
Steiners. Sehr langweilig. Steiners haben mich eingeladen, am 12. Jänner bei ihnen
(im Anschluß an Kammermusik) etwas vorzulesen. Ich habe weder angenommen
noch abgelehnt. Zalozieckyj hat von einem magnetischen Wunderdoktor (Gratzin-
ger) erzählt, bei dem er jetzt wegen seines Buben ist ; er läßt die Patienten, bevor
sie entmagnetisiert werden einen Baum, ein Haus, vor allem aber einen Menschen
(in ganzer Figur) zeichnen u. siehe da, jeder zeichnet bei dem Menschen jene Kör-
perstelle hinein, wo er seine Krankheit sitzen hat. Z. B. ein Ischiaskranker zeichnete
einen Menschen von vorn u. d. Gesäß dazu von rückwärts !157
21. Dezember 1923
Gestern habe ich nach einer langen Tramwayfahrt, bei der ich fast erfroren bin, um
Christbaumsachen von der Hellerfabrik, Ilse in d. Walfischgasse begrüßt. Ivo ist sehr
herzig, sehr intelligent u. graziös, Ilse sieht wieder ganz gut aus, die Fabrik in Al-
lach ist in andere Hände übergegangen, sie ist nur mehr künstlerischer Beirat, ohne
Procura – also auch ohne Sorgen. Seither ist sie sehr glücklich. Nachmittag große
Kinderjause im Unterrichtsministerium, alle Kinder des Hauses zwischen 3 und 14
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien