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Tagebuch 1923
25.XII.1923
Also gestern war Weihnachten. Ungeheuer viel Sachen u. tiefste Friedlichkeit. Zu-
erst oben bei d. Kindern das kleine Weihnachtsspiel von Krampus, Sternschnuppe,
Christkind u. Äskulap, das ganz überraschend für Hans war u. ihm viel Freude
machte. Ehrlich war wieder ganz verliebt in die Vroni, die in ihrem langen Nacht-
hemd als Christkindl entzückend aussah. Dann die Bescherung, ich bekam eine
Schreibmappe, Eau de Cologne, Galoschen, Regenschirm, schwarzen Spitzenshawl,
eine Glasvase und wundervolle Bonbons (vor allem eine hölzerne Bonbonniere von
Figdor, die ich einmal für Briefe verwenden kann). Dann den illustr[ierten] Bauer als
Millionär von Raimund, eine lavierte Federzeichnung, Auffindung Mosis von Feigl,
eine Pastell von Stefferl, das mir bei ihm im Atelier so gut gefallen hatte (Land-
schaft mit Pferden) und eine Zeichnung von Tischler. Ehrlich war sehr deprimiert,
er fühlte sich mit seinem Selbstporträtspiegel und seiner warmen Unterhose zu reich
beschenkt und es kostete viel Mühe, ihn zu beruhigen. Endlich gestand er, daß er
uns d. Porträt von der Vroni schenken wollte, es auch schon zu diesem Zweck her-
gerichtet hatte, aber sich doch nicht entschließen konnte, es herauszubringen weil er
erstens „kein Weihnachten“ feiert, zweitens unsren Widerstand fürchtete. Ich nahm
das Bild mit großer Freude an. Es wird noch farbig für „d. Zelt“ photographiert und
kommt dann, er wird es selbst aufhängen. Dem Hans habe ich noch das neue Buch
von Worringer „Anfänge d. Tafelmalerei“ und von Friedländer „Altdorfer“ auf den
Tisch gelegt ; sie waren beide am Morgen zufällig gekommen. Ach es war so ein lie-
bes, herzerfreuendes Fest. Den Tee tranken wir in d. Bibliothek, Ehrlich rauchte noch
bei mir eine Zigarette u. Hans ging zu den Kindern hinein, sie saßen auf der Erde
und spielten Quartett u. selbsterfundene andere Spiele mit Quartettkarten. Wir hör-
ten die lieben eifrigen Stimmen herein mit den ganz unterschiedenen menschlichen
Timbres, alle aber so freudig und lieb zueinander und lauschten hinaus u. sprachen
gedämpft miteinander, um hören zu können. Dann ging Ehrlich weg und wir hatten
ein ganz alleiniges Abendessen, alle 6, unten im Speisezimmer, was schon allein eine
Feierlichkeit bedeutet
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Heute war Ilse mit dem Ivokind den ganzen Tag da, es ging toll zu, ebenso toll
wie das Gewitter heut früh um 6h mitten in den großen Schnee hinein. Ich hab lauter
telephonische Gespräche geführt und Dankbrieferln geschrieben
– fehlt nur noch der
an Dr. Figdor und bin so müd von der vielen Kindlerei den ganzen Tag lang. Mein
Vronili hat heute den ersten Zahn unten beim Spielen (schmerzlos zu ihrem großen
Staunen) verloren.
26.XII.
Hansens Aufsatz über das Dvorakbuch für die N[eue] Freie Presse gestern gelesen ;
und dann (auf meine Anregung hin) hat Hans vorgelesen : die Judenbuche wunder-
voll. Auch Moorgedichte von der Droste. Vormittag Felix mit Frau u. Kindern, ers-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien